21. März 2021 | Deutsche Welle
Ales Bjaljazki, Leiter des Minsker Menschenrechtszentrums „Viasna“ , sagte der DW, dass das Niveau der Repression in Belarus jedes Maß sprenge, und erklärte, wie der Westen den belarusischen politischen Gefangenen helfen könne.
Leiter des Menschenrechtszentrums „Viasna“ Ales Bjaljazki kommentiert in einem Interview mit der DW die Situation bei der strafrechtlichen Verfolgung von Demonstranten in Belarus und sagte, dass das Niveau der Repression im Land jedes Maß sprenge. Das betrifft auch das Zentrum selbst. Der frühere politische Gefangene Bjaljazki, der fast drei Jahre in einer Untersuchungshaftanstalt und Kolonie verbracht hatte, erklärte der DW, wie die Verwaltung an Orten mit Freiheitsentzug Druck auf politische Gefangene ausübe, und erzählte, wie diese ihre Rechte verteidigen könnten.
DW: Die belarusische Generalstaatsanwaltschaft hat 468 Strafverfahren gegen Demonstranten an die Gerichte geschickt. Die Zahl ist beeindruckend. Was passiert?
Ales Bjaljazki: Tatsächlich hat niemand die Anzahl dieser Fälle genau gezählt. Ich denke, es gibt noch viel mehr von ihnen, weil ungefähr zweieinhalbtausend Strafverfahren eingeleitet wurden. Einige von ihnen sind noch nicht beendet. Es gibt Fälle, in denen 10 bis 12 Personen auf einmal involviert sind, es gibt Fälle, die nur eine Person betreffen.
Vier Leute aus unserem Zentrum befinden sich in der Untersuchungshaftanstalt. Das Verfahren zur Kriminalisierung von „Viasna“ befindet sich in vollem Gange. Meine Kollegen sind nun in das Untersuchungskomitee zum Verhör in diesem Fall vorgeladen worden – wir werden beschuldigt, Aktionen zu finanzieren, die die öffentliche Ordnung grob verletzen. Und dies dafür, dass wir Menschen helfen, Beschwerden zu schreiben, und Ratschläge geben, wie sie sich bei friedlichen Aktionen verhalten sollen.
Nach diesem Artikel des Strafgesetzbuches beträgt die Strafe in einer Kolonie bis zu zwei Jahre. Darüber hinaus können auch einige andere Strafartikel auftauchen. Das passiert bei uns oft – sie fangen mit einem an, dann kommt ein anderer und ein dritter taucht auf. Ich selbst bin bisher Zeuge in zwei Strafverfahren, aber auch mein Status kann sich jederzeit ändern.
In der Regel waren es im Januar und Februar jeweils ca. 100 Gerichtsverhandlungen [in Fällen von Demonstranten. Anm. des Hrsg.]. All dies deutet darauf hin, dass das Ausmaß der Repressionen im Land ungewöhnlich hoch ist. Das hat es seit Stalins Zeiten nicht mehr gegeben. Es kann nicht einmal mit irgendetwas verglichen werden. Wenn man sich an die Geschichte von Belarus während der Sowjetunion erinnert, wurden bei uns nach antisowjetischen Strafartikeln in den 60er- bis 80er-Jahren in der Regel eine bis drei Personen pro Jahr verurteilt. Jetzt werden jeden Monat Hunderte von Menschen hinter Gitter gebracht, Hunderte sind im Gefängnis, und buchstäblich jeden Tag werden neue Strafverfahren eröffnet. Das Niveau der Repression sprengt jedes Maß.
Die Machhaber sprechen mit dem Volk in der Sprache der Gewalt. Die sogenannte Judikative ist völlig abhängig, sie wird mit voller Macht gegen politische Gegner, die verschiedene Schichten der Gesellschaft repräsentieren, eingesetzt: Das sind Studenten, Journalisten, politische Aktivisten, Vertreter der Wahlkampfzentralen der Präsidentschaftskandidaten und einfache Arbeiter. Sie alle protestierten, so gut sie konnten, gegen Wahlfälschungen im Sommer und Herbst 2020. Und jetzt steigt eine echte Flut von Gerichtsverhandlungen und repressiven Maßnahmen der Regierung hoch.
Es ist nicht verwunderlich, dass die Zahl der politischen Gefangenen in Belarus ständig wächst. Unter welchen Bedingungen befinden sie sich hinter Gittern, unterscheidet sich dies von den Bedingungen für gewöhnliche Kriminelle, die wegen häuslicher Gewalt verurteilt werden?
Nach Angaben belarusischer Menschenrechtsler*innen wurden mit Stand vom 15. März 281 Personen im Lande zu politischen Gefangenen erklärt. Und diese Zahl wächst ständig. Manchmal wirft man uns sogar vor, dass wir uns nicht beeilen, Menschen als politische Gefangene anzuerkennen. Dies sind jedoch unsere strengen Standards.
Die Bedingungen in belarusischen Gefängnissen entsprechen nicht den internationalen Standards. Das gilt für die Anzahl der Insassen in den Zellen, für die Zellen selbst, die eher öffentlichen Toiletten gleichen, für die Verpflegung und die medizinische Versorgung und natürlich für den Aufenthalt in der Untersuchungshaftanstalt. Das ist eine harte Herausforderung für jeden. Ich selbst war in zwei Untersuchungshaftanstalten und in einer Kolonie, und ich kann mit Sicherheit sagen, dass man bei guter Gesundheit sein muss, um es in belarusischen Gefängnissen auszuhalten, und man kann sie dort sehr leicht verlieren.
Erstens gibt es nicht genug Licht – all diese „Wimpern“ an den Fenstern lassen praktisch kein Licht durch, daher fällt das Sehvermögen sehr schnell ab. Das Essen, das die Häftlinge bekommen, ist vitaminarm. Und wenn man aus der Freiheit nicht mit Gemüse versorgt wird oder Vitamine nicht weitergeben werden, ist es sehr leicht, Zähne zu verlieren.
Natürlich hat die Verwaltung einen besonderen Umgang mit politischen Gefangenen. Viele der politischen Gefangenen landen in der Untersuchungshaft, wenn sie anfangen, in irgendeiner Weise ihre Rechte zu verteidigen – auf obligatorische Spaziergänge, auf den Erhalt von Briefen, die dann wer weiß wohin verschwinden, weil die meisten Briefe sie gar nicht erreichen.
Vor einer Woche gab es einen so typischen Fall in der Untersuchungshaftanstalt Mahiljous, wo der Blogger Sjarhej Pjatruchin jetzt absitzt…
… danach wollte ich gerade fragen. Pjatruchin schlitzte sich die Pulsadern auf, um gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Wie effektiv sind solche radikalen Schritte, tragen sie zur Verbesserung der Situation bei?
Ein Häftling hat, wie jeder Mensch, immer eine Wahl. Manchmal ist sie ziemlich hart, wenn man sieht, dass deine Rechte von der Verwaltung grob verletzt werden. Pjatruchin, der vor Gericht steht und maximale Konzentration benötigt, wurde mit einer psychisch kranken Person und einem Pädophilen in eine Zelle gebracht. Er fängt an zu fordern, in eine andere Zelle verlegt zu werden. Aber man hat ihn nicht umsonst dorthin verlegt, es ist klar, dass die Verwaltung psychischen Druck auf ihn ausübt, höchstwahrscheinlich auf Verlangen der Geheimdienste. Denn Pjatruchin verhält sich im Prozess mutig, stellt das gesamte Justizsystem in Frage, prangert dieses Regime an, agiert als Tribun. Sie wollen ihn durch seine Haftbedingungen unter Druck setzen, und er schneidet sich aus Protest die Pulsadern auf.
Der Gefangene hat immer diese Trumpfkarte – Selbstverstümmelung oder Hungerstreik. Sie ist wahrscheinlich die letzte Karte, die er auf den Tisch legen kann. Und das ist immer sehr ernst, wie jetzt bei Pjatruchin oder bei Ihar Banzer, der sich in Hrodna bereits an der Grenze seiner Leistungsfähigkeit in einem trockenen Hungerstreik befand. Das sind natürlich extreme Maßnahmen. Wie effektiv sie sind und wie sehr die Person selbst bereit ist, sie anzuwenden, ist immer eine persönliche Entscheidung.
Während der drei Jahre, die ich in der Kolonie verbracht habe, bin ich nie in den Hungerstreik getreten oder habe mich selbst verstümmelt. Aber ich wusste immer, wenn so ein kritischer Moment kommt, wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe, dann gibt es immer eine solche Möglichkeit zu protestieren. Jetzt sehen wir, dass es in belarusischen Gefängnissen ständige Hungerstreiks gibt. Dies zeigt, dass auf politische Gefangene psychischer oder physischer Druck ausgeübt wird.
In den Kolonien ist die Situation noch schlimmer. Sie alle stehen unter der Kontrolle der Verwaltung, und es gibt dort auch eine starke Gruppe von „Aktivist*innen“, die aus Häftlingen zusammengesetzt wird, die mit der Verwaltung kooperieren, die sogenannte „Kozlobanda“, („Ziegenbock-Bande“, Anm. des Übers.). Solche Gefangenen sind zu allem bereit – sie können eine Prügelei organisieren, sie können dich zu irgendwelchen Aktionen provozieren, wenn ihnen eine solche Aufgabe von der operativen Dienststelle, dem Leiter der Kolonie oder der Abteilung zugewiesen wird – jeder von ihnen hat sein eigenes Netzwerk solcher „Aktivist*innen“. Daher muss sich der Gefangene in der Kolonie sowohl gegen die Verwaltung, die Druck auf ihn ausübt, indem sie ihm Pakete nicht übergibt, Besuche vorenthält und andere Einschränkungen einführt, als auch und gegen diesen „Aktivist*innen“ wehren.
Hier hängt viel von der Person ab – wie sie sich verhalten wird, wie bereit sie ist, sich gegen diese Aktionen zu wehren und wie sie psychologisch vorbereitet ist, diesem Druck über einen längeren Zeitraum standzuhalten. Weil man in einer Kolonie nicht einen Tag oder einen Monat verbringt. Jetzt ist die Situation natürlich anders als damals, als ich vor sieben Jahren in einer Kolonie in Bobrujsk war. Damals war ich der einzige politische Gefangene dort. Jetzt gibt es Hunderte von ihnen. Und das ist eine sehr ernste Herausforderung für die Verwaltung, denn es wird schwierig, mit ihnen umzugehen, sie zu zwingen, ruhig und gehorsam zu sein.
Wie reagiert die Verwaltung auf radikale Aktionen von Gefangenen wie z.B. das Aufschneiden der Venen oder Hungerstreiks?
Dies ist die alte sowjetische Schule, alle Bestrafungsmethoden sind gleich geblieben. Wenn man die Memoiren von Dissidenten aus der Sowjetzeit liest, kann man sofort erkennen, dass die belarusischen Kolonien und Gefängnisse nicht von den sowjetischen zu unterscheiden sind. Natürlich landet der Gefangene für eine solche Aktion in einem Karzer (wenn er sich in einer Untersuchungshaftanstalt befindet) oder in einer Strafzelle (wenn er sich in einer Kolonie befindet). Nach mehreren Strafen in der Kolonie wird er zu einem hartnäckigen Unruhestifter, was dazu führt, dass er bei Päckchenübergaben und Besuchen eingeschränkt wird.
Wenn eine bestimmte Anzahl solcher Strafen angehäuft wird, kann das Gericht den Gefangenen ins Gefängnis schicken, wo das Regime strenger ist. Und man muss noch mehr Gesundheit haben, um dieses Gefängnis zu überleben. Wir haben einen solchen Weg: zuerst Untersuchungshaftanstalt, dann Strafkolonie, danach Gefängnis. Mikalaj Statkewitsch zum Beispiel ging den gleichen Weg. Das Schicksal hatte Erbarmen mit mir, ich wurde aus der Kolonie entlassen. Aber ich wusste immer, dass ich jederzeit auch als als Dauertäter auf diesen Weg geschickt werden könnte. Es ist sehr leicht, zu einem zu werden – ein Knopf ist nicht richtig zugeknöpft, ein Buch liegt auf dem Nachttisch und so weiter. Die Verwaltung wird immer einen Grund finden, eine Strafe zu verhängen.
Wie können der Westen und die Europäische Union belarusischen politischen Gefangenen helfen?
Der Druck auf den belarusischen Staat muss ständig erhöht werden. Das politische System in Belarus befindet sich in einer tiefen Krise, wir haben sie nicht überwunden. Es flammte im August 2020 auf und lodert nur in einer anderen Form weiter. Die wirtschaftliche Situation war nicht sehr gut, und jetzt steht das Land vor einer echten Rezession.
Man darf sich nicht von den Behörden an der Leine führen lassen und dieses Regime auf keinen Fall wirtschaftlich unterstützen. Schließlich ist in Belarus heute die Lage der Menschenrechte dieselbe wie in Turkmenistan oder in Nordkorea. Und, ich wiederhole, nur politischer und wirtschaftlicher Druck des Westens kann Minsk beeinflussen.