4. Januar 2021 | Alena Talkatschowa, TUT.BY
Der populäre Blogger Sergej Tichanowski, einer der Kandidaten bei den belarusischen Präsidentschaftswahlen, sitzt bereits den achten Monat in der Untersuchungshaftanstalt. Er hat einem Journalisten von TUT.BY einen Brief geschickt, in dem er über das letzte Jahr Bilanz zieht und über seine Haftbedingungen und seine Eindrücke vom Treffen mit Lukaschenko im Untersuchungsgefängnis des KGB berichtet.
Tichanowski schrieb den Brief am 24. Dezember 2020, aber er kam erst am 6. Januar an. In dem Brief wünscht Tichanowski allen anteilnehmenden Belarus: innen ein frohes neues Jahr und frohe Weihnachten und dankt für deren Unterstützung.
„Meine Haftbedingungen sind im Großen und Ganzen erträglich. Sie misshandeln mich in Schodsina nicht so wie in Wolodark [KGB-Gefängnis in der Wolodarskij-Straße in Minsk, Anm.d.Red.] und sie haben mich bis jetzt noch nicht in den Karzer gesteckt. Seit fast 5 Monaten sitze ich alleine in einer Zelle und schaue seitdem BT, ONT, STV [staatliche Fernsehkanäle, denn nur sie sind für Gefangene zugänglich, Anm.d.Red.], aber nur bis 18 Uhr. Später fernzusehen erlaubt das Regime nicht. Der Rest ist der gleiche wie bei den anderen Gefangenen“, berichtet Sergej Tichanowski in seinem Brief.
Das Jahr 2020, schreibt Tichanowski, war interessant und, zugegebenermaßen, unglaublich. Das Jahr 2020 machte Tichanowski stolz, Belaruse zu sein.
„Tausende Belarusen aus aller Welt, die mir im Gefängnis Briefe geschrieben haben, entdeckten ebenso ihren Stolz und lernten sich wahrhaftig kennen. Mir wurde auch klar, dass ich unsere Frauen unterschätzt habe. Sie sind zu erstaunlichen Dingen fähig und sollten künftig mindestens 50% der führenden Positionen im Land einnehmen. Ich hatte von Swetlana, meiner Frau, keinen solchen Mut, keine solche Stärke und keinen solchen Kampf erwartet. Sie ist ein Vorbild für viele Frauen und Männer in Belarus und im Ausland”, schreibt Sergej.
Tichanowski schreibt auch über seine Eindrücke vom Treffen mit Alexander Lukaschenko im KGB-Gefängnis letzten Oktober.
„Sie können sich nicht einmal vorstellen, wozu er fähig ist. Er kommandiert persönlich die Festnahmen bei den Protesten an den Wochenenden (Wahlen sind keine Ausnahme). Er belauscht sogar die Gespräche mit meinem Anwalt im Untersuchungsgefängnis, was die anwaltliche Vertraulichkeit verletzt. Er nannte mich dreimal (während des Treffens) den zukünftigen Präsidenten und sah gleichzeitig Viktar Babaryka an, um ihn zu beeinflussen und uns zu spalten. Er sagte unverblümt, dass Politik ein schmutziges Geschäft sei, dass man, wenn man in die Politik gehe, damit rechnen müsse, dass einem Geld untergeschoben wird und dass es zu Provokationen kommt, wie in Hrodna oder dass man ins Gefängnis kommt. Er sagte direkt, dass es seine Entscheidung sei, ob wir sitzen oder nicht. Und dass diejenigen, die ,kooperieren‘, herauskommen werden. Er sagte, dass zwei am nächsten Tag freigelassen werden (Juri Woskresenski, ein Aktivist aus Babarykas Hauptquartier und der PandaDoc-Direktor Dmitri Rabzewitsch wurden am 11. Oktober freigelassen, einen Tag nach dem Treffen im KGB-Untersuchungsgefängnis. Anm. TUT.BY).
Er sagte, er habe mich nach den Wahlen freilassen und mit Swetlana ins Ausland schaffen wolle, aber nachdem er mein Gespräch mit meinem Anwalt in der Untersuchungshaftanstalt gehört hatte, in dem ich darüber sprach, dass es unmöglich sei, zu vergeben, und es unbedingt erforderlich sei, die Familie des Diktators, die ,Abgeordneten‘ und alle Gauner vor Gericht zu stellen, hat er mich in Einzelhaft gesteckt.“
„Er wird niemals mit jemandem verhandeln. Die Macht garantiert seine Sicherheit. Es gibt kein Gesetz im Land, es gibt nur seinen Willen. Und wie er sagte, wird er die Macht mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln verteidigen. Und das Lachhafteste ist, dass es immer so war. Aber es war nicht so massiv, da es keine so massiven Proteste gab. Er wird vor nichts Halt machen, nicht einmal zögern“, schreibt Sergej Tichanowski.
Der Blogger ist der Ansicht, dass anhaltende friedliche Proteste für Belarus auf lange Sicht vorteilhafter ist.
„Dies ist eine Revolution der Humanität, des Bürgerbewusstseins und der Gerechtigkeit. So entsteht eine Nation, eine Zivilgesellschaft. Die ganze Welt ist von uns begeistert. Ein schneller Sieg würde Belarus all dies vorenthalten. Wenn man im Gefängnis sitzt, möchten man natürlich schneller gewinnen. Wenn die Proteste nachlassen, wird er aus unserem Land ein Konzentrationslager machen. Einen Gulag. Daran gibt es überhaupt keinen Zweifel. Und das Leben der Gefangenen wird die Hölle werden. Niemand außer den Belarusen selbst wird Belarus die Freiheit bringen! Wir haben jede Chance, ein freies Land zu werden, ein Vorbild für viele!“, fasst Sergej Tichanowski zusammen.