Die Verwandlung der Minsker Höfe in eine Galerie der Protestkunst
15. September 2020, 8:00 | Jauhenija Shtein, Onliner
Es ist nicht bekannt, was die Gesetzeshüter dazu veranlasst, einen Salzhaufen und eine mit Bitumen bedeckte Wand zu bewachen, aber es ist offensichtlich, dass die Behörden einfach nicht in der Lage sind, mit dem Strom der Protestkunst fertig zu werden. In letzter Zeit ist die Polizei sogar selbst zum Zentrum der Protestkunst und zu ihrem Hauptakteur geworden. Mit jedem Tag erscheinen in Minsk mehr Wandbilder und Skulpturen, die die Ereignisse und Persönlichkeiten der letzten fünf Monate verherrlichen. Und oft verwandeln sich Zeichnungen an der Wand in eine lebhafte Performance, deren Geschichte Zehntausende von Minsker Bürger*innen in ihren Bann zieht.
Das Mural auf dem Platz des Wandels
Erinnern wir uns an den Tag der offenen Tür von Weiterbildungseinrichtungen im Juli, als zwei DJs das Lied „Wandel“ von Wiktor Zoi auflegten und den Beifall einheimsten, weil die Veranstaltung spontan Anhänger von Swetlana Tichanowskaja versammelte.
Für ihre Aktion erhielten DJs 10 Tage Verwaltungshaft, nationalen Ruhm und einen Platz auf einem Umspannwerk in einem der Minsker Innenhöfe.
Wahrscheinlich hätten Dutzende von Minsker Bewohnern und Bewohnerinnen vor dem Hintergrund des Wandbildes Selfies gemacht und es sicher darüber vergessen, wenn die Gesetzeshüter es nicht als eine Ehrensache betrachtet hätten, das Mural um jeden Preis loszuwerden. So entstand aus einem Umspannwerk ein modernes Kunstlabor, dessen Hauptdarsteller nicht DJs oder gar Bewohner sind, die das Bild malen, sondern Gesetzeshüter, die das Bild wegscheuern, übermalen und die entstellte Wand den ganzen Tag bewachen.
Am 10. September bemalten Gesetzeshüter die Wand mit Bitumen, warteten darauf, dass sie trocknet, und kratzten die Silhouetten von DJs aus, die dank der Hartnäckigkeit der Bewohner schon zum Basrelief geworden waren. Das Ergebnis war ein Hochrelief, das die Gesetzeshüter wieder mit Bitumen bemalten. Am nächsten Tag stellten sich einige Polizisten an die schwarze Wand. Alles, was da passierte, war der Konzeptkunst in der Berliner Galerie sehr ähnlich. Dutzende von Menschen und Journalisten kamen zusammen, um diese Absurdität mit eigenen Augen zu sehen.
Die Polizisten verhielten sich höflich und versuchten, mit dem geschützten Objekt zu verschmelzen. Alles ging so bis Sonntagabend, als die Bewohner, die Gunst des Moments und den Mangel an Ordnungskräften nutzend, erneut stilisierte Porträts von DJs auf schwarzem Bitumen anlegten. Nachts kratzten „Menschen in Schwarz“ mit scharfen Gegenständen das Wandbild aus der Umspannstation aus, aber anstatt es zu verstümmeln, machten sie es noch schöner. Es stimmt, später korrigierten sie es, aber OMON-Art gelang auf Foto und Video zu kommen und sofort von Minsker Bewohnern angetan geworden war.
Ein Spielplatz mit dieser Umspannstation, die unfreiwillig zu einem Labor der Protestkunst geworden ist, nennen viele Minsker der Platz des Wandels. Eine Zeitlang hing hier sogar ein entsprechendes Schild. Bald wurde das Toponym auf Google Maps markiert. Darüber hinaus erschienen in den Stadtbezirken Uruchcha und Hrushauka zwei Wandmalereien, die die Graffiti der Charviakova-Strasse duplizierten.
Maria-Kolesnikowa-Platz
Protestmurals tauchen auch in anderen Bezirken von Minsk auf. Zum Beispiel war einer der Höfe in der Kolesnikowa-Straße mit dem Porträt der frau mit demselben Namen, der politischen Aktivistin geschmückt und Maria-Kolesnikowa-Platz benannt. Eine Tafel erschien an der Wand, dann wurde ein Toponym in Google Maps eingetragen. Das Porträt von Kolesnikowa wurde zu einem Ort der Nachbarschaftstreffen, und um es herum wurde eine Ausstellung von Kinderzeichnungen eingerichtet.
Neulich haben die Unbekannten das Wandbild grün angemalt und mit einer Schablone beleidigende Beschriftungen gemacht, in denen behauptet wird, Kolesnikowa sei eine deutsche Geheimdienstlerin.
Doch Kolesnikowa ist es mit ihren herzförmig gefalteten Fingern bereits gelungen, in den Stadtbezirk Novaja Baravaja einzudringen und die „Schnupftabakdosen“ zu besiedeln.
In einem der Stadtbezirke entstand ein Mural mit Swetlana Tichanowskaja.
Wandmalereien zu Ehren des OSVOD (Landesverband der Wasserrettung), MAZ (Minsker Automobilenwerk), MCHS (Ministerium für Notsituationen)
Vor der Präsidentenwahl vervielfachte das Ministerium für Notsituationen Wandmalereien zu seinen Ehren, um den Rettungsdienst zu verherrlichen und die Bürger an die Regeln des Brandschutzes zu erinnern. Aber in letzter Zeit hat sich die Agentur mit einem völlig berufsfernen Geschäft betätigt – der Demontage der weiß-rot-weißen-Fahnen, die zwischen den Hochhäusern gespannt sind. Nicht alle Mitarbeiter des Ministeriums für Notsituationen stimmten dieser Arbeit zu: Wir wissen von mindestens zwei Fällen, in denen die Retter die Flaggen nicht entfernten, sondern sie nur in der Luft verbreiteten. Danach entstand auf einer der Umspannstationen in Brylevichy [Stadtbezirk in Minsk – Anm. des Übersetzers] eine weitere Wandmalerei, die den Mitarbeitern dieser Behörde gewidmet war. Nun aber eine des Volkes.
Am vergangenen Sonntag wurden auch OSVOD-Angestellten die Liebe der Menschen und die administrative Bestrafung zuteil. Als die Demonstranten bei einem Fluchtversuch vor OMON in den Svisloch [Fluß in Minsk – Anm. des Übersetzers] sprangen, zogen die Retter sie aus dem Wasser und brachten sie auf das andere Ufer. Danach wurde auch der OSVOD auf einem der Gebäude der Stadt verewigt.
Auf einer anderen Umspannstation war ein Bild zu Ehren der Fabrikarbeiter angebracht, die sich an dem Streik beteiligten und den Protest unterstützten. Neulich wurde das Bild entfernt.
Porträt von Nina Baginskaja
Das Porträt einer bekannten Aktivistin, Nina Baginskaja, ist kürzlich an der Wand einer Polizeischule in Minsk erschienen. Seit Baginskaja zu einem der Symbole des Frauenprotestes wurde, haben ihr viele Menschen ihre Kunstwerke gewidmet. Sie gelangen so an die Mauern der Akademie des Innenministeriums.
Zmaharych
Ein weiteres Protestkunstobjekt erschien in der Nacht vom 12. September in Uruchcha. Einige Minsker Bewohner strichen tief in der Nacht die lokale Skulptur in rot und weiß, um ihre Bürgerposition durch Kunst anzuzeigen. Die Einwohner von Uruchcha nannten den Drachen Zmaharych und veranstalteten um ihn herum ein Fest mit Musik, Sсhaschlik und Fahnen.
Die Bewohner von Uruchcha gingen davon aus, dass die Stadtbehörden die Skulptur bald in einer anderen Farbe neu bemalen würden, aber bisher ist mit Zmaharych nichts passiert. Obwohl bereits einige verblüffte Gesetzeshüter in seiner Nähe bemerkt wurden.
Ein weiteres weiß-rot-weißes Wandbild erschien auf der Brüstung eines Wohnhauses in Uruchcha. Es scheint die Nationalbibliothek in charakteristischen Protestfarben darzustellen.
Eine eigene weiß-rot-weiße Station ist auch in Kamennaja Horka erschienen.
Wenn sie einen Kampf um die Straßenkunst verlieren, setzen die Behörden oft administrative Ressourcen ein. So wurden gegen mehrere Häuser auf dem Protesthof in der Charviakova-Straße Geldstrafen in Höhe von insgesamt 900 Basiswerte (24.300 Belarusische Rubel) verhängt. Formale Gründe haben mit den Wandbildern nichts zu tun: Den Eigentümergemeinschaften wurde vorgeworfen, die Lüftungsanlage nicht rechtzeitig überprüft zu haben. Andere Minsker Bürger helfen, den Bewohnern des Platzes des Wandels eine riesige Summe auszuzahlen.
Andere Eigentümervereinigungen, die durch Protestaktivitäten gekennzeichnet sind, werden ebenfalls mit einer Geldstrafe belegt. Zwei Häuser in der Dzerzhinskaha-Prospekt erhielten jeweils 200 Basiswerte (5.400 Belarusische Rubel). Das Ministerium für Notfallsituationen verhängte diese Sanktionen wegen Verletzung der Brandschutzvorschriften.