Anatoli Kotau nach seinem Rückzug aus dem Regierungsapparat Lukaschenkas, darüber, wie belarussische Spitzenbeamte jetzt über Proteste und Regimetreue denken
7. September 2020, 14:26 | Meduza
Der stellvertretende Abteilungsleiter in der Präsidialverwaltung der Republik Belarus, Anatoli Kotau, verließ während der Proteste den Staatsdienst, weil er mit der Politik der Behörden gegenüber den Protestierenden nicht einverstanden war. Er gab seine Entscheidung öffentlich bekannt, indem er auf Facebook schrieb, dass er sonst „nachts nicht schlafen“ könne. Der Sonderkorrespondent von „Meduza“, Maxim Sokolow, sprach mit Kotau über die Ursachen der politischen Krise in Belarus, die Stimmung unter den belarussischen Beamten, die Möglichkeit einer Spaltung in Lukaschenkas Umgebung, das Programm der Opposition und mögliche Szenarien für die weitere Entwicklung des Landes.
Berichten Sie uns über Ihre Karriere im Staatsdienst.
Ich habe innerhalb des Systems des Außenministeriums gearbeitet, sowohl in der Zentrale als auch in der belarusischen Botschaft in Polen. Ich begann in einfachen Positionen: juristische Arbeit in der Vertragsabteilung [Außenministerium], in Polen dann als Sekretär in der Handels- und Wirtschaftsabteilung. Bei der zweiten Entsendung [nach Polen] war ich bereits Berater in politischen Fragen. Ich arbeitete in der außenpolitischen Abteilung der Präsidialverwaltung als leitender Berater. Mehrere Jahre lang war ich für das Nationale Olympische Komitee tätig – formal ist das natürlich ein Ehrenamt, aber es ist auch eine unverzichtbare Institution im Bereich des Sports. Sie wird vom Präsidenten der Republik Belarus selbst geleitet. Ich war stellvertretender Direktor für die Veranstaltung der Zweiten Europäischen Spiele in Minsk. Danach arbeitete ich im Verband für Cyber-Sicherheit in Belarus. Das war der Versuch, eine Plattform für die Diskussion relevanter Themen in der belarusischen IT-Unternehmergemeinde zu schaffen. Es handelte sich dabei um einen Wirtschaftsverband, ich habe dort durch meine Rückkehr in den Staatsdienst jedoch nur kurze Zeit gearbeitet. Die letzte Station war meine Tätigkeit als stellvertretender Abteilungsleiter in der Präsidialverwaltung.
Insgesamt drehte sich meine gesamte Arbeit um die Beziehungen von Belarus mit der Außenwelt. In der Präsidialverwaltung waren dies die Länder Lateinamerikas, Afrikas, zum kleineren Teil Europas, vor allem Polen, denn ich hatte lange Zeit in dem Bereich gearbeitet. In der Verwaltung [des Präsidenten] waren es auch die außenwirtschaftlichen Beziehungen.
Hatten Sie mit Alexander Lukaschenka selbst Kontakt?
Unsere Wege kreuzten sich bei mehreren Veranstaltungen im Bereich Sport. Es handelte sich jedoch um Begegnungen mit Leistungssportlern, bei denen es zwischen uns keine direkten Gespräche gab. Deshalb fällt es mir schwer, persönlich etwas über den derzeitigen Staatschef zu sagen. Abgesehen davon, dass er ein wirklich guter Redner und eine charismatische Persönlichkeit ist und es versteht, das Publikum zu erreichen. Aber in verschiedenen Situationen kreuzten sich meine Wege mit denen der meisten Minister und Abteilungsleiter der Präsidialverwaltung.
Sie waren der jetzigen Regierung gegenüber bis zuletzt loyal?
Lassen Sie es mich so sagen: Ich habe den öffentlichen Dienst nicht verlassen, um mich der Opposition anzuschließen. Für mich waren Effizienz und die Möglichkeit, in diesem Bereich zu arbeiten, in dem ich tätig war, immer wichtig. Es gibt Ziele, und es gibt die passenden Mechanismen, um sie zu erreichen.
Es mag zynisch klingen – aber meiner Meinung nach war ein Sieg [für Lukaschenko] bei den Wahlen durchaus möglich. Es wurde allerdings Alles auf äußerst unprofessionelle Weise umgesetzt. In der Konfrontation zwischen Behörden und der Opposition stand das Volk immer auf der Seite der Behörden. Zum ersten Mal ist das Volk nun auf sich allein gestellt – gegen beide Seiten. Wenn Sie unsere Wahlen verfolgt haben, sehen Sie, dass die traditionelle Opposition keine Rolle gespielt hat. Aus meiner Sicht hätte all das und was dann geschah, verhindert werden können. Hätte mir vor sechs Monaten jemand gesagt, dass es solche Ereignisse in unserem Land geben würde, hätte ich ihn für verrückt erklärt. Aber eine Folge fataler Fehler [der Behörden] in den vergangenen sechs Monaten haben zu den Geschehnissen auf den Straßen unserer Städte geführt.
Wohin wir im August 2020 gekommen sind, ist schrecklich. Infolge des unprofessionellen Vorgehens der Regierung kam es zu furchtbaren Dingen, die es so im modernen Belarus bislang nicht gab. Parallelen zeigen sich nur in Bezug auf Ereignisse innerhalb des Großen Vaterländischen Krieges [Zweiter Weltkrieg, Anm]. Das ist für mich vollkommen inakzeptabel. Wenn das Opposition ist, dann bin ich in der Opposition. Ich bevorzuge jedoch die Formulierung „Auf der Seite des Volkes“.
Kann man sagen, dass Sie den politischen Kurs, den die gegenwärtige Regierung bis zu den letzten Wahlen verfolgt hat, unterstützt haben bzw. nach wie vor unterstützen?
Dies ist nicht die richtige Formulierung. Ich war immer ein Befürworter einer effektiven Entwicklung unseres Landes. Aber das, was wir jetzt vor uns sehen, entspricht dem in keiner Weise.
Erschien Ihnen bis zu diesem Punkt alles effektiv?
Ich war Mitwirkender und Zeuge außenpolitischer Arbeit, die in die richtige Richtung ging: Dialogbereitschaft mit verschiedenen Parteien, Verhandlungen, multilaterale Außenpolitik, Öffnung des Landes. Ich nahm mich des Projekts der Europäischen Spiele mit großer Begeisterung an. Einen gewissen Prozentsatz an Hindernissen und Merkwürdigkeiten in der öffentlichen Verwaltung konnte ich akzeptieren, weil wir uns insgesamt auf einem guten Weg befanden: 2015 war besser als 2010, 2018 war besser als 2015. 2019 kann man sogar als fantastisch bezeichnen, was die Förderung des Images von Belarus auf dem internationalen Spielfeld betrifft. Als die Europäischen Spiele stattfanden, bemerkte ganz Europa und fast die ganze Welt Belarus zum ersten Mal. Alles lief super. Sport-Teams, Offizielle und Fans kamen (viele von ihnen waren zum ersten Mal in Minsk). Es war ein Triumph der Sportdiplomatie.
Aber wenn die jüngsten Ereignisse das sind, wofür wir all das getan haben, dann bin ich mit diesem Kurs ganz und gar nicht einverstanden und möchte in keiner Weise daran beteiligt sein. Ich verstehe nicht, wie es im 21. Jahrhundert in einem durch und durch europäischen Land möglich gewesen ist, unbewaffnete Bürger zu töten, massenhaft zu prügeln und zu foltern und sich später nicht einmal dafür zu entschuldigen. Das überschreitet für mich eine rote Linie.
Die Gesellschaft hat ein schweres psychologisches Trauma erlitten. Siebentausend Festgenommene. Das muss man mit der Anzahl ihrer Familienmitglieder multiplizieren, die in drei Tagen Polizeistationen und Gefängnisse durchlaufen haben. Weitere 450 Personen, die dauerhaft körperlich geschädigt worden sind und ihre Angehörigen, die von dieser Tragödie in irgendeiner Form betroffen sind. Für sie wird das friedliche Belarus nie mehr geben.
Man kann 10-15 Personen einschüchtern. Das ist keine kritische Masse. Aber wenn das Ausmaß der Gewalt die akzeptierten Grenzen überschreitet, ist es nicht möglich, den Geist wieder in die Flasche zu bekommen. Wir brauchen einen ernsthaften Ansatz zur nationalen Versöhnung. Es ist unmöglich, eine solch große Zahl unzufriedener Bürger zu besänftigen, ohne sich wenigstens bei ihnen zu entschuldigen. Es geht aber nicht nur darum, dass sie sich nicht entschuldigen… Eine Person bringt zur Anzeige, dass sie verprügelt wurde und zur Antwort bekommt sie eine Mitteilung über die Einleitung eines Strafverfahrens gegen sie selbst. Für mich als Anwalt versagt der Staat hier bei der Erfüllung seiner Rechtspflichten. Das ist nicht einmal Leben nach Gangsterregeln, das ist reine Gesetzlosigkeit.
Der Staat hat das Gewaltmonopol, das ist ein Klassiker jeder politischen Theorie. Aber jede Gewalt muss sich innerhalb bestimmter Grenzen bewegen, die auch in Belarus gelten: Folter ist unzulässig, der Einsatz besonderer Mittel ist geregelt. Aber wenn all dies demonstrativ nicht beachtet wird, dann ist das eine andere Realität, in der ich nicht Mittäter sein will. Wenn dies das Ergebnis unserer Entwicklung ist, bedeutet dies, dass wir irgendwo falsch abgebogen sind.
Ich habe die jüngste Erklärung unseres Außenministers aufmerksam zur Kenntnis genommen, in der er darum bittet, Belarus eine Chance zur inneren Transformation zu geben. Wir hatten diese Chance schon oft, aber wir haben sie nicht genutzt. Wir müssen den Mut haben, zuzugeben, dass das bestehende System nicht zu Reformen fähig ist. Ich habe keine andere Erklärung dafür als das Fehlen entsprechender Fachleute. In den letzten Jahren ist eine Generation von Regierungsbeamten herangewachsen, die nur noch „Ja!“ sagen und die Hacken zusammenschlagen können. So funktioniert das System nicht. Wenn es keinen Bedarf für normales klassisches Management im Land gibt, sollte man von solchen Ergebnissen nicht überrascht sein.
Wann gewannen Sie den Eindruck, dass sich die Regierungsführung verschlechtert?
Um die Jahre 2010 bis 2015 herum hatte man das Gefühl, dass es unter den führenden Politikern des Landes Menschen gibt, die sich für ihre Arbeit interessieren, die Entwicklung und Kreativität wollen. Es gab sogar eine ganze Anzahl von Menschen, die aus dem Ausland in den Staatsdienst zurückkehrten, um sich selbst zu verwirklichen und das Land in seiner Entwicklung voranzubringen. Die Blütezeit des belarusischen IT-Sektors begann. Ich sah in meinem Umfeld Kollegen mit moderner europäischer Bildung.
Als ich [im Jahr 2020] in den Staatsdienst zurückgekehrte, bemerkte ich, dass um mich herum ein Wandel stattfand und zwar nicht zum Besseren. Der [ehemalige] Chefredakteur der Zeitung „Sowjetskaja Belarus“ Pawel Jakubowitsch hat das sehr gut beschrieben. Er widmete einen ganzen Artikel der These, dass die belarusische Nomenklatura in den letzten Jahren eine klare Negativauswahl erlebt habe. Daraus resultiere eine Krise der Regierungsführung.
Man kann über ihn geteilter Meinung sein, Jakubowitsch galt immer als Bewahrer der belarusischen Staatsideologie, aber es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass er ein kluger Mann ist und das System seit der Sowjetzeit beobachtet hat. Wenn ein solches politisches Urgestein sagt, dass die Krise durch die Personalpolitik der letzten drei oder vier Jahre verursacht wurde, dann sollte man das zumindest in Betracht ziehen. Ich persönlich teile diese These.
Verstehe ich richtig, dass die Ernennung Natalia Kotschanowas zur Leiterin der Präsidialverwaltung der Beginn dieser Politik war?
Genau dazu schrieb Jakubowitsch: Seit ihrem Amtsantritt lief etwas verkehrt mit der Personalpolitik.
Warum hat der Präsident, der stets aktiv in alle Bereiche des Staatslebens eingegriffen hat, plötzlich die Bodenhaftung verloren und die Verwaltung ungeeigneten Leuten anvertraut?
Es fällt mir schwer, meine Meinung dazu zu formulieren. Viele erklären es sich damit, dass das Staatsoberhaupt von Menschen umgeben war, die ihn in Watte gepackt haben.
Ehemalige Staatsbeamte nennen unter diesen Personen die Pressesprecherin des Präsidenten, Natalia Eismont, Frauen des Protokollarischen Dienstes und Natalia Kotschanowa. Kommt das der Wahrheit nahe?
Wissen Sie, wenn nur ich Ihnen davon berichten würde, müssten Sie das nicht ernst nehmen, denn ich bin kein alter Haudegen und keine Autorität innerhalb des Systems. Aber wenn ich diese Sache von zehn verschiedenen Quellen kenne und ihr selbst immer wieder begegnet bin, dann erscheint diese Erklärung zumindest naheliegend. Das ist es, was die Reaktionen aus der Bevölkerung, gerade aus dem einfachen Volk, provoziert hat. Seit der dritte und wichtigste politische Akteur die Bühne betreten hat, handelt es sich nicht mehr um eine Konfrontation zwischen Regierung und Opposition. Alle waren betroffen von COVID19 und der davon ausgelösten Rezession im April. Die Reaktion der Regierung war, schlicht zu behaupten „Bei uns gibt es das nicht!“ Das hat die Leute empört. Warum haben sich die Machthaber so verhalten? Ich habe keine andere logische Erklärung als die oben genannte.
Welche Stimmung herrscht während der politischen Krise unter den Beamten vor – Loyalität gegenüber der Führung oder Sympathie für die Protestierenden?
Im Staatsdienst gibt es immer mehrere Kategorien von Leuten. Erstens diejenigen, die schon sehr lange dort arbeiten und sich nicht mehr außerhalb dieses Paradigmas wahrnehmen können. Wenn Sie 10-15 Jahre in einer Institution arbeiten oder sich in einer Struktur nach oben bewegen, engt das Ihr Denken erheblich ein. Viele von ihnen wollen auf ihrem eigenen Gebiet auch nichts Neues mehr lernen.
Es gibt eine Kategorie von Personen, die persönlich in illegale Aktionen verwickelt waren: Es handelt sich um Bereitschaftspolizisten, die Leute zusammenschlugen, um Lehrer, die Ergebnisse in Wahlkommissionen fälschten… Sie werden in die Enge getrieben, weil sie sich auf gewisse Weise für das Geschehene verantwortlich fühlen.
Es gibt Menschen, zu denen ich mich selber zähle, die wollten, dass der Staat anständig ist. Solche Leute gehen jetzt, weil ihre Haltung [für die Regierung] bedeutet, dass sie unzuverlässig sind, eine instabile Psyche haben oder „die ganze Bedeutung des historischen Moments“ nicht verstehen – nach dem Motto: „Es gibt Feinde, wir sind an der Front und müssen unsere Reihen schließen“. Ich bin froh, dass es diesen Menschentyp gibt und dass er sich jetzt offenbart.
Welche öffentlichen Auftritte der letzten Zeit haben Sie in diesem Sinne beeindruckt?
Insbesondere Pawel Latuschko. Dmitri Semtschenko, ein leitender Mitarbeiter des Senders ONT kündigte. Obwohl er formal nicht der Präsidialverwaltung angehörte, stand er der Leitung des Pressedienstes sehr nahe. Eine der zentralen Figuren im direkten Umfeld des Präsidenten und dessen informeller Tonangeber. Artem Proskalowitsch, stellvertretender Leiter der obersten juristischen Abteilung der Präsidialverwaltung, kündigte buchstäblich am selben Tag. Ich kenne ihn nicht persönlich, aber er gehört zu den Personen, die seit mehr als einem Jahr in der Verwaltung tätig sind und als Experten für Rechtsprechung auf höchster Ebene große Autorität genossen haben. Er nahm seinen Hut und ging aus den gleichen Gründen wie die Anderen.
Die Situation rund um die Leistungssportler verdient, gesondert erwähnt zu werden. Es gibt einen offenen Brief mit Forderungen an die Regierung, der bis heute von mehr als 400 Personen unterzeichnet wurde, darunter auch Spitzensportler, die nicht einfach übergangen werden können: unsere Marathonläuferin Olga Masurenok, die Gymnastin Melitina Stanyuta, eine mehrfache Weltmeisterin und Gewinnerin zahlreicher Auszeichnungen, der Sambo-Ringer Stepan Popov, die Olympia-Medaillengewinnerin Nadeshda Ostaptschuk, Mitglied der Basketball-Nationalmannschaft, die Schwimmerin und Olympia-Medaillengewinnerin Alexandra Gerasimenja. Sportler sind die einzigen Meinungsführer, die auf Lukaschenkos Kernwähler Eindruck machen. Sie sind Vorbilder. Die Sportler sind diejenigen, die in moralischer Hinsicht Einfluss auf Menschen mit Bedenken nehmen können.
Es kündigen Mitarbeiter aus der mittleren Leitungsebene des Staatsapparates und der Strafverfolgungsbehörden. Einige von ihnen tun dies öffentlich, andere tun es im Stillen, aber der Prozess ist im Gange. Die besten Leute gehen. Je weniger fähige Leute übrig bleiben, desto schlechter steht es um die staatliche Verwaltung. Das System schrumpft sich selbst. Unser Außenminister sagte, dass wir, sobald die Abweichler gegangen sind, die Reihen nur noch fester schließen, sie zementieren und noch mehr zusammenhalten würden. Aber wenn uns die jetzige Verfasstheit des Staatsapparates, mit seinem Verfall in die Krise gebracht hat, wird der Zusammenbruch mit Sicherheit so noch schneller kommen. Es gibt kluge Mitarbeiter, und es gibt loyale Mitarbeiter. Diese Typen sind aber nicht immer identisch. Die Klugen sind schwieriger zu handhaben, aber je loyaler Leute sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass das System an seiner eigenen Inkompetenz zerbricht.
Wenn die Regierung weiterhin den Dialog verweigert, ist es dann möglich, dass die vielbeschworene Spaltung der Eliten oder eine Spaltung in Lukaschenkos Umgebung eintritt?
Ich glaube nicht, dass es Zerfallserscheinungen auf der Ebene der zentralen Figuren in der Umgebung des Präsidenten geben wird. Meiner Meinung nach ist dies die Sorte von Menschen, die sich selbst in die Enge getrieben sieht und sich nur in eine Richtung weiterbewegen kann.
Gibt es Verhandlungsführer im Umkreis des Präsidenten? Viele, auch in der Opposition, nannten den ehemaligen Premierminister Sergej Rumas.
Wissen Sie, vor kurzem, wenn auch nicht direkt, so wurde doch vom Staatsoberhaupt folgende Einschätzung zu diesem Mann geäußert: Einige dieser Zweifler haben wir in den Ruhestand verabschiedet, in den Wirtschaftsbereich. Diese Formulierung war für Sergei Rumas am zutreffendsten. Er wurde von Allen am meisten respektiert, zumindest für seine positiven Ergebnisse bei der Führung des Bankensektors sowie für seinen respektvollen Kommunikations- und Führungsstil.
Er bleibt also diese Kompromissfigur, oder wird jeder Versuch seinerseits, ein politisches Subjekt zu werden, schwerwiegende Folgen für ihn haben?
In unserer Geschichte ist das Überschreiten einer solchen roten Linie bis zu einem gewissen Grad praktisch wie Selbstmord. Auch vor kurzem wurden wieder die rote Linie bezüglich Minister Pawel Latuschko erwähnt. Es gibt dazu einen Bericht im Fernsehen, in dem der Präsident wörtlich sagt, dass eine Person diese Grenze überschritten habe, die zuvor beinahe auf Knien vor ihm gekrochen sei.
Auch wenn es zynisch klingt: Die Leute, die derzeit Mitglieder des Koordinierungsrates der Opposition sind, genießen natürlich einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung. Aber die andere Seite wird ihnen nicht zuhören, weil sie der Nomenklatura fremd sind. Deshalb sollte es Persönlichkeiten geben, die zwar aus der ehemaligen Führungsschicht stammen können, welche aber keine Ablehnung hervorrufen. Sobald sich diese jedoch aus dem Fenster lehnen, müssen sie entweder in die Emigration fliehen oder sie bekommen ein Strafverfahren angehängt.
War die Brutalität der Sicherheitskräfte für Sie eine Überraschung? Haben Sie eine Erklärung dafür?
Ja, so etwas hat es in Belarus noch nie gegeben – was auch immer Sie über die belarussischen Gesetzeshüter und ihr Verhältnis zur Opposition sagen, aber so etwas ist hier seit den 1940er Jahren nicht mehr vorgekommen. Es ist klar, dass es auch für diejenigen, die schon früher Ärger hatten, nicht leicht war. Aber glauben Sie mir, so etwas ist nie passiert. Ja, sie wurden einkassiert, aber nach der Verhaftung nie verprügelt oder gedemütigt. Es wurde keine Folter angewandt, abgesehen von maximalem psychologischen Druck. Ich habe keine Erklärung für die jetzige Grausamkeit. Aber es gibt eine Erklärung für diese demonstrative Loyalität. Es ist gerade wegen der Brutalität. In unserem Land gibt es schwere Strafen für Folter, darunter die Todesstrafe. Diese Leute sind jetzt tatsächlich davon überzeugt, dass sie in einer Sackgasse stecken.
Zerfallsprozesse im sozialen Bereich finden bereits statt: Familien und Nachbarn, die früher zusammenlebten, beginnen, sich jetzt misstrauisch zu beäugen. Wenn Vertreter der Strafverfolgungsbehörden unter ihnen sind, fangen sie an, sie misstrauisch anzuschauen. Das setzt diese natürlich unter Druck. Die Schülerinnen und Schüler verlieren das Vertrauen in ihre Lehrer, denn sie wissen, dass bei Maria Iwanowna 10 plus 10 gleich 110 ergibt. Der Protest dagegen drückt sich darin aus, dass Eltern einfach keine Beiträge für Reparaturen u.Ä. mehr geben wollen.
Auf der anderen Seite verstehe ich die Ordnungskräfte und Beamten, die an all dem beteiligt waren, sehr gut. Sie scheinen keine Möglichkeit der Umkehr zu erkennen. Aber viele Länder haben dasselbe durchgemacht. Wenn wir die Mechanismen betrachten, die hoch gestochen als „Lustration“ bezeichnet werden, sehen wir, dass der Prozentsatz der Menschen, die in irgendeiner Form zur Verantwortung gezogen werden, vernachlässigbar ist und gegen Null tendiert. Für die meisten Menschen, auch für diejenigen, die sich einer Sache schuldig gemacht haben, reicht es aus, „Entschuldigung“ zu sagen. Es reicht aus, jemanden zu degradieren und disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen. Genau so sollte das gehandhabt werden.
Es ist sehr wichtig, nicht in das Paradigma der Rache zu verfallen. In der belarusischen Gesellschaft sitzen Alle im selben Boot, und wir Alle leben weiterhin miteinander. Ohne Versöhnung ist das unmöglich.
Ehrlich gesagt sieht es nicht so, als ob die belarusische Gesellschaft Rache fordern würde oder die OMON in die Knie zwingt wie in der Ukraine…
Auf jeden Fall. Wir werden ständig mit dem ukrainischen Maidan verglichen, mit den Ereignissen in den transkaukasischen Republiken, wo es auf beiden Seiten Gewalt gab. Belarus ist aber ein anderer Fall.
Es gibt auch die Meinung, dass Lukaschenko den Höhepunkt der Proteste überstanden hat und in der Lage sein wird, sich mit Gewalt an der Macht zu halten. Wie real ist das?
Sie können nicht ganz Belarus mit Gewalt unterwerfen. Kundgebungen und Protestaktionen finden nicht nur in Minsk statt, sondern auch an Orten, an denen sie noch nie stattgefunden haben. Es ist unmöglich, das Land in dieser Situation zu führen. Ein solcher Protest kann nicht unterdrückt werden, es sei denn, er verschwindet von selbst. Meiner Meinung nach gibt es mehrere grundlegende Szenarien. Das einfachste Szenario ist die Transformation des Systems selbst und ein Dialog mit der Gesellschaft. Die zweite Option ist der Versuch, in Erwartung einer tiefen Wirtschaftskrise weiterhin auf Gewalt zu setzen. Während es früher einige Möglichkeiten für das Aufnehmen von Krediten gab, besteht nach dem August 2020 nur noch Hoffnung auf russische Hilfe. Aber auch das werden nur temporäre Notpflaster sein. Die Ursachen der Unzufriedenheit werden nicht verschwinden. Belarus ist ein Sumpfland, und das Löschen eines Feuers ist im Sumpf am schwierigsten. Jeder Feuerwehrmann wird Ihnen das bestätigen.
Wird die belarussische Führung jetzt noch stärker von Russland abhängig sein? Wie wahrscheinlich ist das Szenario einer sehr „tiefen Integration“, von der russische Beamte in dieser Lage träumen? Und wozu kann das führen?
Wenn wir die Emotionen beiseite lassen und die Situation nüchtern betrachten, ist der Einfluss Russlands auf die Lage in Belarus entscheidend. Hätte Russland eine Position der Neutralität und der Nichteinmischung zugunsten einer der beiden Seiten eingenommen – nicht mit Worten, sondern mit Taten – hätte die belarusische Revolution vor einer Woche gewonnen. Stattdessen sehen wir, dass russische Journalisten ihre belarusischen Kollegen ersetzt haben, die aus moralischen und ethischen Gründen zurückgetreten sind. Wir sehen eine Erklärung über eine russische Reservetruppe, die für den Fall einer Einmischung in den inneren belarusischen Konflikt bereit steht. Aber dies ist nicht der Maidan, es gibt hier keinen pro-europäischen oder anti-russischen Protest, es ist der Protest des belarusischen Volkes. Kein vernünftiger Politiker in Belarus, mit Ausnahme der extremsten Randgruppen, die es überall gibt, wird fordern, an der Grenze zu Russland einen Graben zu ziehen und Krokodile hinein zu setzen. Es ist klar, dass Russland einer unserer wichtigsten Nachbarn und Partner in Wirtschaft und Politik ist. Wir müssen normale, tragfähige Wirtschaftsbeziehungen aufbauen, in denen alle Verträge erfüllt werden.
Natürlich kümmert sich Russland unter solchen Bedingungen nur um seine eigenen Interessen und nicht um die wie auch immer gearteten Interessen des belarusischen Volkes.
Was wird passieren, wenn die russische Führung auf das geschwächte Regime Druck ausübt und auf eine „tiefere Integration“ drängt?
Hier gibt es aus meiner Sicht zwei Szenarien für Russland. Das erste Szenario ist die Unterzeichnung von Vertragspapieren mit der derzeitigen Führung der Republik Belarus. Dann werden sie mit der Unzufriedenheit der Belarusen konfrontiert. Niemand wird in der tieferen Integration etwas anders sehen als einen Ausverkauf der Souveränität, während die Belarusen in ihrem eigenen Land leben wollen. Die zweite Option besteht darin, eine reibungslose und kontrollierte Transformation in Belarus einzuleiten. Dieses Szenario schließt die Unterstützung der Verfassungsreform und der darauf folgenden vorgezogenen Wahlen ein. Während dieser Zeit wird Russland die Gelegenheit haben, etwas zu kreieren, das es, wie sich gezeigt hat, in Belarus bislang nicht gibt, nämlich pro-russische Politiker. Politiker, die im Kreml angehört werden, hatten wir dort wegen des Monopols von Lukaschenko bezüglich des Dialogs mit Russland nicht. Es ist eine weichere Variante, die für Russland nachvollziehbar ist. Ob sie aber auch für die Belarusen akzeptabel ist, erscheint fraglich. Und ob die Zeit wird dafür ausreichen wird…
Übrigens beschuldigte Lukaschenko das Team von Viktor Babariko, solche Kontakte zu pflegen.
Man kann nach Lust und Laune Anschuldigungen formulieren, aber der amtierende Präsident hat de facto ein Monopol auf solche Kontakte. Ich habe sogar das Argument gehört, dass Sergei Rumas von der Macht verdrängt wurde, weil er im Kreml verstanden und dort als fähiger Finanz- und Wirtschaftswissenschaftler und einfach als angenehmer Gesprächspartner wahrgenommen wird.
In diesem Sinne verstehe ich Lawrows Aussage, dass Moskau außer Lukaschenko niemanden zum Reden hat. Und deshalb lassen die derzeitig Regierenden nicht zu, dass sich solche Verhandlungsfiguren im Koordinierungsrat der Opposition entwickeln. Dieser soll möglichst inkompetenz und antirussisch wirken.
Es ist ein anderes Thema, dass Russlands übermäßige Sorge um das Agieren pro-russischer Politiker in keinem Land zu einem guten Ende geführt hat. Alles entpuppte sich als das genaue Gegenteil. Ein pro-russischer Politiker wird als Verräter an seinem Heimatland wahrgenommen. In Georgien, zum Beispiel, ist paradoxerweise die pro-russischste Regierung die gegenwärtige. Russland profitiert von einer vernünftigen und pragmatischen Führung in einem Nachbarland, die gewinnbringende Investitionen in seine Unternehmen ermöglicht, anstatt Razzien durchzuführen. Diese Option wäre die vorteilhafteste für Russland – das Recht des belarusischen Volkes anzuerkennen, sein eigenes Schicksal zu bestimmen. Alle Versuche, die gegenwärtige Regierung zu stützen, schüren die Unzufriedenheit mit Russland. Niemand verbrannte bei den Protesten russische Flaggen und demonstrierte mit den Flaggen der EU und der USA, aber mit seiner etwas ungeschickten und respektlosen Politik gegenüber dem belarusischen Volk riskiert Russland eine wachsende Unzufriedenheit. Es ist eine Sache, wenn die Behörden ihr Volk nicht respektieren. Es ist etwas vollkommen Anderes, wenn Menschen, die vorgeben, Brüder zu sein, anstatt die Gewalt zu verurteilen, noch mehr OMON-Kräfte zu schicken bereit sind.
Wie nachvollziehbar ist Ihrer Meinung nach das Programm des Koordinierungsrates der Opposition in dieser Situation? Was sind seine Schwächen, abgesehen des Mangels an für Moskau gesprächswürdigen Personen? Haben die friedlichen Proteste noch eine Chance zu siegen?
Einerseits hat der Koordinationsrat einfache und eindeutige Forderungen: Freilassung der politischen Gefangenen, Bestrafung der Gewalttäter und Durchführung von transparenten Neuwahlen. Auf der anderen Seite können wir sagen, dass diese Forderungen ziemlich utopisch sind, denn sie beinhalten kein klares wirtschaftliches und politisches Programm, und die entsprechenden Reformen müssten unmittelbar nach der Erfüllung der Forderungen beginnen. Doch die Entwicklung solcher Programme ist der Kern des Dialogs zwischen den politischen Kräften, den der Koordinierungsrat nun einfordert. Man kann argumentieren, dass keine der Seiten aktuell vollständig versteht, was in der Wirtschaft des Landes vor sich geht. Daher ist ein vernünftiger Kompromiss erforderlich.
Das Gespräch führte Maxim Sokolow