„Ich wollte nicht glauben, dass das Unumkehrbare geschehen war“

Wie und warum die Regierung die Wahrheit über das AKW Tschernobyl vertuschte

26. April 2021, 08:00 | Adarja Guschtyn, TUT.BY
Tschernobyl-Zone.
Source: Sjarhej Bruschko, TUT.BY

Im Februar 1986 verkündete Michail Gorbatschow die neue Politik der Offenheit (Glasnost). Zwei Monate später kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zur Explosion. Die sowjetische Regierung hatte es jedoch nicht eilig, die Bevölkerung darüber zu informieren. Die Schweden waren die ersten, die Alarm schlugen. Wir haben die freigegebenen Protokolle des Politbüros studiert, um zu sehen, wie die Wahrheit vor den Menschen verborgen wurde. Und wir haben einen renommierten Soziologen gefragt, warum die Machthaber damals nach einem solchen Szenario gehandelt haben und ob solche Informationen heute vor den Menschen verheimlicht werden könnten.

Tschernobyl-Zone.
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Die Schweden waren die ersten, die Alarm schlugen

Mitarbeiter*innen des schwedischen Kernkraftwerks Forsmark bemerkten, dass ihr Sicherheitssystem erhöhte Strahlenbelastung signalisierte. Es stellte sich heraus, dass die Verschmutzung nicht vom AKW Forsmark selbst ausging. Aufgrund der Windrichtung wurde ein Unfall im Kernkraftwerk Tschernobyl vermutet. Versuche, auf diplomatischem Wege etwas über die Situation herauszufinden, führten zu keinen Ergebnissen. Erst als die Schweden mit einer offiziellen Anfrage bei der IAEO drohten, fühlte sich die UdSSR genötigt, den zu Unfall zu melden. Am 10. Mai lehnten Mitglieder des Politbüros ein Ansuchen des schwedischen Ministers für Energie und Umweltschutz nach einem Besuch in der UdSSR ab. Ziel war ein Informationsaustausch über Nuklearsicherheit gewesen.

Die erste knappe offizielle Mitteilung über den Unfall wurde am 28. April von TASS veröffentlicht und in der Fernsehsendung „Wremja“ wiederholt. Aber selbst als am 7. Mai ein Artikel über Tschernobyl in der Prawda veröffentlicht wird (ihre Auflage betrug mehr als 10 Millionen Exemplare), schaffen es die Informationen über die Tragödie nicht auf die Titelseite der Zeitung. Als „eilig“ wurden Meldungen von Journalisten darüber eingestuft, dass „CIA-Terroristen das Volk von Nicaragua angegriffen haben“, „die afghanische Konterrevolution ein neues barbarisches Verbrechen gegen Zivilisten begangen hat“ und „ein amerikanisches Kampfflugzeug eine Übungsgranate auf ein Wohnhaus in einer belgischen Stadt abgeworfen hat“. In der Zeitung gibt es kein Foto vom Kernkraftwerk Tschernobyl, aber es wird berichtet, dass infolge des Unfalls im Kraftwerk zwei Menschen gestorben seien, mehr als hundert Menschen Strahlungsverletzungen erlitten hätten und 204 Menschen mit Strahlenkrankheit ins Krankenhaus eingeliefert worden seien. Niemand gibt den Menschen klare Anweisungen, was sie tun sollen und wie sie sich schützen sollen. Zu diesem Zeitpunkt fanden im ganzen Land bereits Tausende von Demonstrationen zum 1. Mai statt. Die feierlichen Veranstaltungen wurden nicht nur nicht abgesagt, auch die Belegschaften von Fabriken und Bildungseinrichtungen kamen zu den Feierlichkeiten.

Belarusische und sowjetische Presse. Mai 1986.
Source: TUT.BY

Die Zeitung „Sowjetskaja Belorussia“ druckt denselben Bericht wie die Prawda: Er handelt von einer Pressekonferenz im Außenministerium, wo der stellvertretende Außenminister Anatoli Kowaljow über die Situation berichtet:

„Natürlich ist das, was in Tschernobyl passiert ist, eine Katastrophe. Lehren werden aber nicht nur aus Erfolgen gezogen, sondern auch aus Tragödien. Wir sind nicht die ersten, bei denen es einen Unfall in einem Kernkraftwerk gibt. In anderen Ländern gab es ähnliche Fälle. Das Geschehene zeigt ein weiteres Mal, welche Vorsicht beim Umgang mit Kernenergie geboten ist.“

Bei einem Treffen in Tokio machten die Staats- und Regierungschefs von sieben Industrieländern der UdSSR Vorwürfe, weil sie keine Informationen über die Explosion im Kernkraftwerk Tschernobyl herausgegeben hatte. Kowaljew erwidert sofort, dass „dieser Vorwurf völlig inakzeptabel ist“:

„Sobald wir verlässliche Daten hatten, wurden diese sofort mitgeteilt. Sobald die Fakten vor Ort unter Berücksichtigung der tatsächlichen Situation geklärt waren, wurde die Situation gemeldet und wir informieren weiterhin fast täglich. Als sich 1979 der Unfall in den Vereinigten Staaten ereignete (der Unfall im Kernkraftwerk Three Mile Island. – TUT.BY), hat die US-amerikanische Seite die Ursachen des Unfalls nicht sofort ermittelt und dem US-Senat erst nach 10 Tagen und der IAEO erst nach fast zwei Monaten Informationen geliefert.“

Belarusische und sowjetische Presse. Mai 1986.
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Aus den Äußerungen der sowjetischen Amtsträger sowie aus ihren Handlungen ist ablesbar, dass der Kalte Krieg nach wie vor im Gange ist. Es ist viel wichtiger, westliche „Verleumder“ zurechtzuweisen, als die eigenen Bürger mit wahrheitsgemäßen Informationen zu versorgen.

„In diesen Tagen konnten wir uns wieder einmal vom subversiven Charakter der Aktivitäten einiger westlicher Rundfunkstimmen überzeugen“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats der UdSSR Boris Schtscherbina. „Die westlichen Propagandisten haben in ihrem Bestreben, die Sowjetunion zu verleumden, die von der sowjetischen Seite berichteten Fakten eklatant ignoriert und gefälschte Informationen verbreitet.“

Erst am 14. Mai äußerte sich Michael Gorbatschow.

Die Panik wächst jeden Tag

Im selben Geist werden die Menschen in der Lokalpresse informiert. So schrieb Anfang Mai 1986 die Zeitung „Prypjatskaja Prauda“, die in Naroulja, einem Bezirk, das von der Tschernobyl-Katastrophe stark betroffen war, erschien, dass die Imperialisten wegen der Tragödie eine Hysterie entfesselt hätten:

„Der schnelle Fortschritt der Wissenschaft und Technik bringt mit sich nicht nur Erfolge, sondern er fordert auch Opfer, materielle und menschliche. Es gibt keinen Bereich menschlicher Tätigkeit, der hier eine Ausnahme darstellt. Für jeden Fortschritt hat die Menschheit einen Preis zu zahlen. Auch die Erforschung des Weltraums ist nicht ohne Opfer, wie der 25. Start des vermeintlich vollständig überprüften amerikanischen Space Shuttles zeigte.“

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Und weiter lässt die Abteilung für Gesundheitsschutz des Homeler Gebietsexekutivkomitees auf den Seiten der „Prypjatskaja Prauda“ verlauten, dass das Niveau der vorhandenen Strahlung nicht gesundheitsgefährdend sei und kein Hindernis für die Arbeit darstelle. Gleichzeitig empfehlen die Amtsträger, mehr zu trinken, Vitamin C einzunehmen, nicht unnötig in die Natur zu gehen und den Aufenthalt im Freien für Kinder und schwangere Frauen einzuschränken. Milch aus privaten Höfen solle nicht getrunken werden, sondern die gesamte Milch sei bei den Molkereien abzuliefern. In der Notiz wird darauf hingewiesen, dass sich die Situation bessere und keine Medikamente eingenommen werden müssten. Gleichzeitig wird darauf hingewiesen, dass einige Bewohner auf eigene Faust nach Minsk und sogar Moskau gefahren seien, während medizinische Untersuchungen vor Ort durchgeführt werden sollten. 

Die nächste Ausgabe enthält eine Mitteilung des Chefarztes des Landkreises Naroulja. Er versichert, dass sich die Strahlungssituation normalisiert habe, und empfiehlt den Bürgern, beim Verlassen des Hauses einen Hut und langärmelige Kleidung zu tragen, die Kleidung vor dem Betreten des Hauses auszuschütteln und im Flur liegen zu lassen, sich vor dem Essen sorgfältig die Hände und das Gesicht zu waschen, jeden Tag zu duschen oder zu baden, jeden Tag das Haus feucht zu reinigen, die Fenster nicht zu öffnen, keine Milch oder Fleisch vom eigenen Hof zu essen, kein Gemüse aus der Erde zu essen, auf Konserven umzusteigen und kein Wasser aus Brunnen zu trinken.

Alla Jaroschinskaja war 1986 Journalistin, die Entfernung zwischen ihrer Heimatstadt Zhytomir und Tschernobyl beträgt etwa 200 km. Von den ersten Tagen an verfolgte sie die Entwicklung bezüglich des Super-GAUs, später wurde sie Abgeordnete, und dank ihr sind heute die geheimen Protokolle des Krisenstabs des Politbüros des Zentralkomitees der KPdSU verfügbar, der sich mit der Liquidierung der Folgen der Tragödie beschäftigte.

In dem Buch „Tschernobyl: Streng geheim“ schreibt Jaroschinskaja, dass obwohl die sowjetischen Medien offiziell nichts über die Explosion in Tschernobyl berichteten, die Panik in den Städten Kiew, Zhytomyr und Tschernihiw in der Nähe von Tschernobyl von Tag zu Tag wuchs.

„Niemand wusste genau, was passiert war, die unglaublichsten Gerüchte verbreiteten sich. Jod verschwand aus den Apotheken. Viele glaubten, dass es möglich sei, sich mit Hilfe von Jod vor Strahlung zu schützen, tranken es unverdünnt und verätzten sich so Kehlkopf und Darm. Die offizielle Medizin schwieg. Zehn Tage später gab der Gesundheitsminister der Ukrainischen SSR schließlich folgende wertvolle Empfehlungen ab: Halten Sie die Fenster geschlossen und wischen Sie Ihre Schuhe beim Betreten des Hauses vorsichtig auf einem feuchten Lappen ab. Reinigen Sie die Oberflächen in der Wohnung feucht. Das war der gesamte Strahlenschutz. Dieses miserable Auftreten sorgte für noch mehr Panik.“

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Dass der vierte Block des Kernkraftwerks Tschernobyl in der Sowjetunion explodiert war, und vom Anstieg der Hintergrundstrahlung erfuhren die Sowjetbürger zuerst durch ausländische Radiosender.

„Der 1. Mai, der Frühlingsfeiertag, stand vor der Tür, und wahrscheinlich wollte niemand glauben, dass tatsächlich etwas Schreckliches passiert war, das nie wieder rückgängig gemacht werden könnte“, erinnert sich Alla Jaroschinskaja in dem Buch. „Am 1. Mai marschierten Millionen von Menschen in Zhytomyr, Kiew, Tschernihiw und anderen Städten der Sowjetunion zu festlichen Demonstrationen auf. Es war sehr heiß Nicht nur warm, sondern heiß. Kinder in Trachten, die den radioaktiven Mief einatmeten, tanzten und erfreuten die Augen der kommunistischen Führung, die den Demonstranten von einer erhöhten Tribüne aus zuwinkte. Leute, die die Wahrheit kannten, versuchten, so weit wie möglich von zu Hause wegzukommen, und an den Kassenschaltern bildeten sich riesige Warteschlangen.“

Demonstrationen zum 1. Mai fanden auch in belarusischen Städten statt. Die Zentral- und Lokalpresse war voller begeisterter Reportagen.

Österreicher weigerten sich, zur Arbeit zu gehen, eine Evakuierung war in Vorbereitung

Die erste Sitzung der Arbeitsgruppe des Politbüros zur Liquidierung der Folgen der Explosion des AKW Tschernobyl fand am 29. April 1986 statt. Die Gruppe traf sich bis Mitte Mai täglich. Bereits seit dem 4. Mai wird die Arbeitsgruppe mit Berichten über Krankenhauseinweisungen überschwemmt: Am 4. Mai werden insgesamt 1.882 Personen eingeliefert, am 5. Mai – 2.757, am 6. Mai – 3.535 und am 7. Mai – 4.301.

Am 8. Mai 1986 genehmigte das Gesundheitsministerium neue Normen für die zulässige Belastung der Bevölkerung mit radioaktiver Strahlung, sie übertrafen die bisherigen Normen um das Zehnfache, in besonderen Fällen war eine Erhöhung um das Fünfzigfache erlaubt. So galten am 8. Mai Tausende von Menschen ohne Behandlung oder Medikamente auf einmal als „geheilt“.

Die Arbeitsgruppe des Politbüros arbeitete hinter verschlossenen Türen. Drei Jahre später, 1989, wurde eine Resolution einer gemeinsamen Sitzung von drei Komitees des Obersten Sowjets der UdSSR verabschiedet, die besagt, dass „während der ersten zwei Jahre nach dem Unfall allgemeine medizinische und dosimetrische Informationen als geheim eingestuft worden sind“.

Im geheimen Protokoll der Arbeitsgruppe steht: „Dem Vorschlag des Gesundheitsministeriums der UdSSR bezüglich der Zweckmäßigkeit der Veröffentlichung von Daten über Zahl und Zustand von Patienten, die im Moskauer Krankenhaus Nr. 6 behandelt werden, ist zuzustimmen, unter Berücksichtigung der Tatsache, dass in diesem Krankenhaus amerikanische Spezialisten arbeiten.“ So sind in einigen Fällen doch einige wahrheitsgemäße Informationen durchgesickert. Nur, dass westliche Spezialisten trotz Hilfsangeboten fast nie in die UdSSR gelassen wurden.

Source: Sjarhej Bruschko, TUT.BY

So lehnten die sowjetischen Behörden das Hilfsangebot einer Gruppe britischer Onkologen ab. Frankreich bot an, einen Eisenbahnwaggon zur Verfügung zu stellen, der für Messungen der Strahlenbelastung von Körpern, insbesondere durch Cäsium-137, ausgelegt war, aber auch dieses Angebot wurde ausgeschlagen. Gesundheitsminister Sergej Burenkow berichtete dem Vorsitzenden des Ministerrats, dass „das Angebot zweifellos von Interesse ist, aber wir können nicht ausschließen, dass das Fahrzeug mit getarnten Geräten zur Sammlung von Daten über den Grad der Kontamination von Gebieten mit Radionukliden, Geräten zur Aufzeichnung von Gesprächen und anderen technischen Aufklärungsgeräten ausgestattet sein könnte“.

Unterdessen weigerten sich österreichische Arbeiter und Spezialisten, die am Bau eines metallurgischen Werks in der Region Homel beteiligt waren, im Mai 1986, zur Arbeit zu gehen. Bei einer Sitzung der Arbeitsgruppe des Politbüros wurde angemerkt, dass ihre Evakuierung in ihre Heimat vorbereitet werde.

Wie „verschmutztes“ Fleisch und Milch verwendet wurden

Am 1. August trat in der gesamten UdSSR eine neue Norm Grenzwert für den zulässigen Gehalt an radioaktiven Stoffen in Milch in Kraft. In einigen Landkreisen bestimmter Gebiete der Belarussischen SSR enthält jedoch ein Teil der verarbeiteten Milch immer noch radioaktive Substanzen in einer Größenordnung, die nicht den aktuell empfohlenen Normen entspricht, deswegen berichteten die lokalen Behörden nach Moskau, dass dies die durchgängige Versorgung der Bevölkerung dieser Gebiete mit Milch erschwere.

„Es ist gestattet, die Einführung der neuen Grenzwerte auf den 1. November 1986 zu verschieben. Solche Produkte sollten nicht exportiert werden“, entscheidet die Arbeitsgruppe des Politbüros.

Tschernobyl-Zone.
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A. Powaljajew, ein ehemaliger Mitarbeiter einer landwirtschaftlichen Versorgungsbetriebs beim Zentralkomitee der KPdSU, der nach dem Tschernobyl-Unfall einer der Berater für Strahlenbiologie wurde, erzählte, wie damals „schmutziges“ Fleisch und Milch verwendet wurden:

„Das Fleisch von Tieren, die in Tschernobyl geschlachtet wurden, war nicht zum Verzehr geeignet. Der Gehalt an Cäsium-137 lag vier- bis fünfmal höher als die damaligen Grenzwerte. Wir brachten es in Kühlräume. Und man begann mit der Lieferung von Fleisch an fleischverarbeitende Betriebe, mit der Anweisung, dem ‚sauberen‘ Fleisch 20% (‚schmutziges‘) beizumengen, bis ein annehmbarer Wert erreicht ist. Dieses Fleisch wurde in der gesamten Sowjetunion mit Ausnahme von Moskau und Leningrad verteilt. Milch war eine ziemlich schwerwiegende Quelle für Verstrahlung. Aber wir haben alles getan, was wir konnten. Im ersten Jahr sparte man so um die acht Millionen Rubel: Milch wurde nicht entsorgt, sondern zu Butter oder Quark verarbeitet. Den Quark ließ man vier Monate liegen, und dann war er bereits frei von Radioaktivität, die Butter war praktisch sauber.“

„Die Moskauer Behörden wollen nicht glauben, was passiert ist“

Die einfachen Leute konnten jedoch die ganze Wahrheit wohl gar nicht kennen. Die erste Sitzung der Arbeitsgruppe des Politbüros wurde von Gorbatschow selbst geleitet. Man entschied, welche Informationen über die Tragödie der Welt mitgeteilt werden sollten. Im Protokoll des Treffens ist zu lesen: Gorbatschow: „Je ehrlicher wir uns verhalten, desto besser.“ Aber schon einen Absatz später sagt er: „In unseren Verlautbarungen müssen wir sagen, dass das Kraftwerk einer planmäßigen Reparatur unterzogen wurde, damit kein Schatten auf unsere Ausrüstung fällt.“

Der Vorsitzende des Ministerrates Nikolai Ryschkow meinte, es sei zweckmäßig, drei Botschaften herauszugeben: für unser Volk, für die sozialistischen Länder und für Europa, die USA und Kanada. Und die Mitglieder des Politbüros unterstützten ihn.

Belarusische und sowjetische Presse. Mai 1986.
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Die Presse durfte nicht bei den Sitzungen der Arbeitsgruppe dabei sein. Bei jeder Sitzung wurde entschieden, was an Presse und Fernsehen herausgegeben werden kann. Jede wesentliche Veröffentlichung zum Unfall von Tschernobyl wurde koordiniert. Am 1. Mai beschlossen die Mitglieder des Politbüros, eine Gruppe sowjetischer Korrespondenten in die an den Standort des AKW Tschernobyl angrenzenden Gebiete zu entsenden, um Material für Presse und Fernsehen vorzubereiten, das „das normale Leben in diesen Gebieten zeigt“. Die Journalisten sollten vor allem darüber schreiben, wie die Behörden bei der Lösung des Problems helfen und wie sich die Sowjetbürger an der Beseitigung der Folgen beteiligen. Die Parteigenossen, so befahl Moskau, sollten mit der Bevölkerung zusammenarbeiten, um „die Erfindungen der bürgerlichen Propaganda und alle Arten von Gerüchten zu entlarven“.

Am 8. Juli schickt Nikolai Matukowski, Korrespondent der „Iswestija“ die folgende Nachricht nach Moskau:

„Dieses Telegramm sollte niemandem außer dem Chefredakteur gezeigt werden. Die Kopie ist zu zerstören. Information. Zu Ihrer Information möchte ich Ihnen mitteilen, dass sich die Situation mit der Verstrahlung in Belarus deutlich verkompliziert hat. In vielen Bezirken der Mahiljou-Region wurde eine radioaktive Kontamination festgestellt, deren Niveau viel höher ist als das Niveau der Bezirke, über die wir geschrieben haben. Nach allen medizinischen Maßstäben stellt der Aufenthalt in diesen Gebieten ein enormes Gesundheitsrisiko dar. Ich habe den Eindruck, dass unsere Genossen verwirrt sind und nicht wissen, was sie tun sollen, zumal die zuständigen Behörden in Moskau nicht glauben wollen, was passiert ist. Ich informiere Sie darüber per Telex, da hier alle Telefongespräche zu diesem Thema strengstens verboten sind.“

Source: Sjarhej Bruschko, TUT.BY

Der Chefredakteur leitete das Telegramm an die Arbeitsgruppe des Politbüros weiter; es wurde beschlossen, die Verstrahlungen in den genannten Gebieten zu überprüfen. Bald wurde empfohlen, die Evakuierung der Bevölkerung aus verschiedenen Siedlungen des Gebietes Mahiljou, insgesamt mehr als 4.000 Menschen, in Betracht zu ziehen.

Ein interessantes Faktum: Die meisten Auszeichnungen für die Beseitigung des Tschernobyl-Unfalls selbst und seiner Folgen erhielten Mitarbeiter der Regierungsapparate von Russland, der Ukraine und Belarus insgesamt mehr als 1.400 Auszeichnungen. Im Vergleich dazu erhielten Vertreter des Ministeriums für Atomenergie 300, des Gesundheitsministeriums 400 und des Innenministeriums 500 Auszeichnungen.

Warum die sowjetischen Machthaber die Wahrheit verheimlichten

Der Soziologe Henads Karschunou (rus. Gennadij Korschunow) erklärt, dass das sowjetische Regime von seiner Natur aus nicht auf die Menschenrechte ausgerichtet war. Große Tragödien wurden durch große Ziele gerechtfertigt.

„In der sowjetischen Ideologie stand an erster Stelle die große Masse des Volkes, die Interessen des Kollektivs, des Landes über den Interessen des Einzelnen“, sagt er. „Ein humanistischer Blick auf den Zustand der Menschen war für die Machthaber nicht von Interesse. Für große Ziele, zum Beispiel die Entwicklung der Kernenergie, mussten halt große Opfer gebracht werden. Es war auch charakteristisch für das sowjetische Regime, besonders während des Kalten Krieges, jedwede Information zu unterdrücken, insbesondere Informationen, die die Errungenschaften des Landes in Frage stellten. Wenn es irgend möglich ist, über etwas nicht zu sprechen, dann wird die Sowjetregierung nichts darüber sagen. Und sie wird nur soviel sagen, wie sie für nötig hält. Die Medien und die Propaganda sagten nicht, was wirklich geschah, sondern was laut sowjetischer Ideologie sein sollte. Außerdem lässt sich das Zurückhalten von Informationen durch schlichte Verwirrung erklären; schließlich handelt es sich um einen sehr großen, von Menschen verursachten Unfall, und ich denke, es ging ihnen darum, eine Panik zu verhindern.“

Source: Sjarhej Bruschko, TUT.BY

„Es erscheint logisch, der Öffentlichkeit die Wahrheit zu sagen, damit die Menschen sich richtig verhalten, dann sind die Folgen für ihr Leben und ihre Gesundheit geringer. Warum hat die Sowjetregierung nicht so gedacht?“, fragten wir den Soziologen.

„Sie gehen davon aus, dass die Menschen das Recht auf Information haben, und selbst entscheiden können, was zu tun ist. Dies passt aber nicht zum Paradigma des Sowjetregimes“, erklärt Henads Karschunou. „Die Menschen können hier nicht selbst entscheiden, die Regierung entscheidet für sie, was sie zu tun haben. Deshalb wurden die Informationen über die Situation im AKW in drei Blöcke aufgeteilt: für die Bevölkerung der UdSSR, für die Länder des sozialistischen Lagers und für den Westen. Es war nicht einmal wirklich Information, es war Propaganda und erzwungene Rechtfertigung.“

Nach seiner Ansicht wäre das Verheimlichen solcher Informationen heute unmöglich.

„Wir leben in einer Welt des horizontalen Informationsflusses, in der sich Nachrichten aus hunderten oder sogar tausenden von Quellen fast augenblicklich verbreiten. In der Sowjetzeit gab es eine hierarchische Struktur, wo es ein Zentrum gab, das entscheidet, wer was weiß und wer was tut. Die Gesellschaft bildete die unterste Ebene und hatte kein Recht, irgendetwas zu entscheiden. Aber selbst 1986 gab es Menschen, die die Wahrheit über den Unfall kannten und die Informationen über ihre Kanäle weitergaben, vor allem an die eigenen Angehörigen, um sie zu retten. Damals gab es kein Internet, Informationen verbreiteten sich sehr langsam. Jetzt kostet es unglaubliche Mühe, solche Tatsachen zu verbergen, und Informationen werden trotzdem durchsickern, während das Vertrauen zwischen Staat und Gesellschaft ernsthaft untergraben wird. Die Machthaber haben nicht länger dieses sowjetische Monopol auf Informationen.“