Stellungnahme des Koordinierungsrates zu Entführungen, schweren Verstößen und Einschüchterungsversuche

7. September 2020, 17:48 | Coordination Council
Coordination Council Statement
Source: Coordination Council

Am 07. September wurden das Präsidiumsmitglied des Koordinierungsrates, Maria Kalesnikawa, der Pressesprecher Anton Rodnenkow und der Exekutivsekretär Iwan Krawtsow entführt. Vorausgegangen waren die brutalen Verhaftungen von Aktivisten, Teilnehmern friedlicher Demonstrationen, zufälligen Passanten, Studenten, Einwohnern des Stadtbezirks Traktorenwerk, Einwohnern Grodnos, Mitarbeitern der Wasserrettung, Café-Besuchern und vielen Anderen. Am 05. September wurde das Präsidiumsmitglied des Koordinierungsrates, Olga Kowalkowa, unter Zwang aus dem Land gebracht. Am 31. August wurde ein Strafverfahren gegen das Präsidiumsmitglied Lilia Wlassowa eingeleitet. Seit 24. August befindet sich das Präsidiumsmitglied Sergej Dylewski in Haft. Mit Blick auf diese Vorfälle hält der Koordinierungsrat folgende Stellungnahme für erforderlich:

Die friedlichen Proteste, die das gesamte Territorium der Republik Belarus in der Folge des 09. August 2020 erfasst haben und die Sicht der Mehrheit der Bevölkerung widerspiegeln, haben ein derartiges Ausmaß erreicht, dass die Machthaber zu ihrer Unterdrückung inzwischen zu offenem Terror übergegangen sind.

Um die Bevölkerungsmehrheit einzuschüchtern und von der öffentlichen Meinungsäußerung abzuhalten, wendet die Regierung bewusst überharte Maßnahmen bei der Verfolgung von Aktivisten, der Verhaftung zufälliger Passanten an und setzt Spezialtechnik ein.

Es ist offensichtlich, dass all diese Methoden illegal sind und nichts bewirken außer der Verschärfung der Situation und der Vertiefung der Krise.

Die friedlichen Aktionen finden dezentral und ohne Führungspersönlichkeiten statt. Der Einsatz von Terrortechniken gegen die Protestierenden sind nutzlos. Die Teilnehmer an den Protesten fürchten nicht in erster Linie die Gewalt, die ihnen die Machthaber androhen sondern eine Zukunft in einem Unrechtsstaat, der sie und ihre Angehörigen erwartet, wenn sich die Lage im Land nicht verändert und Rechtsstaatlichkeit und Demokratie nicht wiederhergestellt werden.

Die Mitglieder des Koordinierungsrates übergeben heute der Ermittlungsbehörde eine Anzeige gegen die Ordnungskräfte, basierend auf den Übergriffen vom 06. September und den Wochen im Vorfeld.

Besondere Aufmerksamkeit wird in der Anzeige auf die Gruppe der nicht identifizierbaren Personen gerichtet, die am Abend im Umfeld des Haus 3 am Prospekt Pobeditelej in Minsk tätig waren. Diese Leute trugen keine Uniformen oder Erkennungszeichen, verbargen ihre Gesichter hinter Masken, um die Identifikation zu erschweren – weder stellten sie sich vor, noch wiesen sie sich aus. Im Gegenteil, sie stellten während der friedlichen Proteste verschiedene Waffen zur Schau, setzen ohne Vorwarnung Spezialmittel (Tränengas, Wasserwerfer u.Ä. – Übersetzer) ein und schlugen auf Bürger ein. Ausgehend von der Aussage der Pressesprecherin des Innenministeriums, Tschemodanowa, gehören diese Personen den Ordnungskräften an. Polizeioberst Karpenkow, der Chef der Hauptabteilung Organisierte Kriminalität und Korruption im Innenministerium, leitete den Einsatz und zertrümmerte eigenhändig die Eingangstür zu einem Café.

Die Anwendung von Spezialmitteln und Gewalt gegenüber den friedlich Protestierenden und Unbeteiligten, gegen Personen, die keinerlei Widerstand leisteten und sogar die, welche auf dem Boden lagen, um ihre friedlichen Absichten zum Ausdruck zu bringen, stellt eine Überschreitung von Machtbefugnissen dar (§ 426 StGB Republik Belarus).

Wir halten es für wichtig, in Erfahrung zu bringen, mit welchem Ziel die unrechtmäßigen Befehle gegeben wurden – die Bestrafung von Zivilcourage, die Einschüchterung der Bevölkerung oder die versuchte Anstiftung zu Rechtsbrüchen. Abhängig von den Zielen bemisst sich der Grad der Verantwortlichkeit.

Wir glauben, dass eine Person, die in öffentlicher Funktion Gewalt gegen Andersdenkende ausübt und ihnen Leid zufügt, dafür auf Grundlage des §128 Strafgesetzbuch der Republik Belarus (Verbrechen gegen die Menschlichkeit) haftbar zu machen ist.

Wenn Gewalt mit dem Ziel ausgeübt wird, die Bürger einzuschüchtern und sie zu zwingen, politische oder soziale Aktivitäten aufzugeben und diese Maßnahmen Menschen der Gefahr schwerwiegender Folgen aussetzen, können diese Handlungen weiterhin als Terrorakte eingestuft werden (nach §289 des Strafgesetzbuchs der Republik Belarus).

Wenn die Strafverfolgungsbehörden ungerechtfertigte Gewalt anwenden, um von Seiten friedlicher Demonstranten gewalttätige Reaktionen zu provozieren und dies dann als Begründung für den Einsatz von Waffen heranzuziehen, so kann dies unter §130 (Strafgesetzbuch der Republik Belarus) als Versuch des Schürens von Feindseligkeiten betrachtet werden.

Der Koordinierungsrat stellt fest, dass alle Handlungen von Personen, die als Amtsträger agieren, Gewalt anwenden und auf die Unterdrückung der politischen und bürgerlichen Aktivitäten der Bürger abzielen, als Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu werten sind, für die es keine Verjährungsfrist bei der Strafverfolgung gilt und die in jedem Land der Welt strafrechtlich verfolgt wird. Der Koordinierungsrat betont, dass die Ausführung einer offensichtlich unrechtmäßigen Anordnung den Ausführenden nicht von der Haftung für diese befreit und im Gegensatz dazu die Nichtbefolgung einer offensichtlich ungesetzlichen Anordnung rechtmäßig ist.

Der Koordinierungsrat fordert die Behörden erneut dazu auf, das Offensichtliche anzuerkennen und Maßnahmen zu ergreifen, die geeignet sind, die Rechtsstaatlichkeit und den Status der Republik Belarus als demokratischer Staat wiederherzustellen.

Um auf die andauernde Krise zu reagieren und erste Schritte zur Umsetzung der Anforderungen des Koordinierungsrats zu unternehmen, ist dringend erforderlich:

  1. die Einleitung und Untersuchung der Verbrechen, die während des Zeitraums vom 09. August 2020 an Teilnehmern friedlicher Aktionen verübt wurden, einschließlich der Untersuchung des Todes von Personen, die seit 09. August 2020 verschwunden sind. Sicherstellung, dass der Gesellschaft täglich neutrale Informationen zum Stand der Untersuchungen zur Kenntnis gebracht werden.
  1. Veröffentlichung zuverlässiger Informationen über das Ergebnis der Wahl vom 09. August 2020 für jeden einzelnen Wahlbezirk. Es ist zu prüfen, ob Hinweise auf eine unter §192 des Strafgesetzbuches der Republik Belarus genannte Straftat vorliegen. Das betrifft alle Fälle, in denen das Wahlverfahren verletzt wurde, einschließlich dokumentierter Beweise bezüglich Wahlbeteiligung, Fälschung von Dokumenten und der Nötigung der Mitglieder der Wahlkommissionen zu solchen Handlungen durch Vertreter von Behörden und Verwaltung.
  1. Beendigung politischer Repressionen und Aufhebung anhängiger Strafsachen hinsichtlich Massenunruhen, Verstößen gegen die öffentliche Ordnung in Bezug auf alle in diesen Fällen Angeklagten, die im Zeitraum vom 10. Mai 2020 bis heute inhaftiert worden sind, einschließlich Viktor Babariko, Sergej Tichanowski und andere Personen, die als politische Gefangene anerkannt sind, gemäß dem gesetzlich festgelegten Verfahren. Freilassung aller rechtswidrig verhafteten Teilnehmer friedlicher Aktionen und Personen, gegen die wegen Teilnahme an friedlichen Aktionen eine Haftstrafe ausgesprochen wurde.
  1. Beendigung der Repressionen gegen Mitglieder des Koordinierungsrates. Sofortige Freilassung von Maria Kolesnikova, Lilia Vlasova, Andrei Jegorow, Anton Rodnenkow, Iwan Kravtsow und die garantierte freie Rückkehr von Olga Kovalkova, Pavel Latuschko und Swetlana Tichanowskaja nach Belarus. Der Koordinierungsrat fordert die Bürger auf, sich keinen Provokationen zu unterwerfen, nicht mit Gewalt auf Gewalt zu reagieren und zu versuchen, alle Gesetzesbrecher ausschließlich vor ordentliche Gericht zu stellen.