19. November 2020, 12:18 | “Nash Dom” International Center for Civil Initiatives
Die Mitarbeiter des belarusischen Innenministeriums nutzen Farbcodes zur Stigmatisierung festgenommener friedlicher Demonstrant*innen und Insassen der Haftanstalten. Die Polizei verwendet farbliche Kennzeichnung, um zu bestimmen, welche Art von Misshandlung und Folter anzuwenden ist, einschließlich Methoden, die schwere bleibende Gesundheitsschäden nach sich ziehen.
Die Farbmarkierung eines Häftlings bedeutet, dass die Person in der Haftanstalt einer bestimmten Art von Misshandlung oder verschärften Haftbedingungen ausgesetzt wird.
Die Haftanstalten für kurzzeitigen Freiheitsentzug, die Untersuchungshaftanstalten, in denen Beschuldigte in einem Strafverfahren während der Ermittlung untergebracht werden, die Strafkolonien und andere Vollzugsanstalten unterstehen dem Innenministerium, d. h. der Polizei bzw. den Strafverfolgungsbehörden. Außerdem nehmen Mitarbeiter des Innenministeriums Menschen bei Protestaktionen vorübergehend fest.
Seit Anfang August wurden zahlreiche Fakten über die Verwendung verschiedener Farben zur Kennzeichnung der inhaftierten Demonstrierenden bekannt. Je nachdem, mit welcher Farbe die Polizei eine inhaftierte Person kennzeichnet, wird sie unterschiedlichen Arten der Misshandlung und Folter unterzogen.
Gegenwärtig wird die folgende Farbcodierung für inhaftierte friedliche Demonstrant*innen verwendet:
- Gelb. Der/die Gefangene wird gefoltert und misshandelt, erleidet aber in der Regel keine dauerhafte körperliche Behinderung.
- Rot. Der/die Gefangene wird brutal gefoltert, trägt häufig schwere gesundheitliche Schäden oder eine dauerhafte Behinderung davon.
- Grün. So werden Gefangene mit unkonventionellem Aussehen gekennzeichnet (Dreadlocks, blaue Haarfarbe, Piercing usw.). Sie sind Folter und Misshandlung sowie im besonderem Maße Beschimpfungen und Beleidigungen ausgesetzt.
- Schwarz. Diese Gefangenen werden am stärksten verstümmelnden Folterpraktiken ausgesetzt; nach unbestätigten Informationen kann ein solcher Häftling auch getötet werden.
Gegenwärtig verwendet die Polizei auch ein bestimmtes Farbsystem von „Kennzeichen“ (Aufnäher, Erkennungsmarken) zur Klassifizierung von Gefangenen in den belarusischen Vollzugsanstalten. Von der einem Gefangenen zugewiesenen Farbe hängt es, welcher Art von Folter und Misshandlung er ausgesetzt wird.
Die farbliche Differenzierung von Gefangenen in Haftanstalten führt zu ungleichen Bedingungen, zu einer erhöhten Aufmerksamkeit der Gefängnisverwaltung für „farbige“ Gefangene und erhöht die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Strafen, einschließlich Isolationshaft, Verweigerung von Familienbesuchen und Paketen und Schwierigkeiten beim Antrag auf vorzeitige Entlassung. Dies führt zur Stigmatisierung und Diskriminierung bestimmter Gruppen von Gefangenen, vor allem von „Kindern 328“ – Jugendlichen, die zum ersten Mal wegen geringfügiger „Drogendelikte“ nach Artikel 328 des belarusischen Strafgesetzbuches verurteilt wurden und grüne Kennzeichen tragen müssen.
Wir möchten betonen, dass Serienmörder, Vergewaltiger, korrupte Beamte und andere Gefangene, die wegen besonders schwerer Verbrechen verurteilt wurden, nicht gesondert gekennzeichnet werden und weiße (neutrale) Kennzeichen tragen.
Im Schreiben Nr. 89/5/G-5 vom 23.07.2019 erklärt die Abteilung für Strafvollzug in Minsk und dem Minsker Gebiet, dass derzeit drei Farben zur Kennzeichnung der Gefangenen verwendet werden:
A) Grün kennzeichnet Jugendliche und junge Leute, die wegen geringfügiger Vergehen zu 8-15 Jahren Gefängnis verurteilt wurden, aufgrund von Vergehen, die mit dem illegalen Handel von Suchtstoffen, psychotropen Substanzen, deren Grundstoffen und Analogstoffen in Zusammenhang stehen, in der Regel sind dies Vergehen nach Artikel 328 StGB. Es gibt bereits ganze Gruppen von Jugendlichen in Gefängnissen, die nur aus „328ern“ bestehen.
B) Gelb werden in der Regel Anarchisten und Antifaschisten markiert, deren strafrechtliche Verfolgung durch KGB und Sonderabteilungen der Generaldirektion für die Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption (GUBOPiK) erfolgt. Die gelbe Markierung kennzeichnet „Personen, die zum Extremismus neigen“ und setzt besondere Aufmerksamkeit seitens der Gefängnisverwaltung voraus. Das bedeutet, dass diese Personen bei Inspektionen immer in der ersten Reihe stehen müssen, nur Briefe mit Alltagsinformationen erhalten dürfen und jegliche Anweisungen der Verwaltung unter Androhung von ernsten Konsequenzen befolgen müssen: Verweigerung von Anrufen, Besuchen und Warensendungen beziehungsweise Isolationshaft.
C) Gefangene, die nach Ansicht der Gefängnisverwaltung zu Flucht- oder Selbstmordversuchen neigen, sind rot markiert.
Kurioserweise versucht das Innenministerium in einem früheren Schreiben Nr. 29/1-5/Ж-8461 vom 21.11.2017, die Verwendung von Farbmarkierungen von Gefangenen abzustreiten, indem es erklärt, dass die Verwendung einer bestimmten Farbe „nicht gesetzlich geregelt“ sei, so dass die Kennzeichen jede Farbe haben können, einschließlich Grün. Aber das entspricht nicht den Tatsachen, denn die „328er“ bekommen nie ein gelbes oder weißes Kennzeichen, sondern aus irgendeinem Grund stets grün.
Die folgende Aufstellung zeigt, dass dieselben Farben konsistent zur Kennzeichnung derselben „Verbrechen“ verwendet werden, was auf eine gewisse Logik und ein bewusstes System der Kennzeichnung von einerseits Gefangenen und andererseits festgenommener Protestierender schließen lässt.
Farbe | Festgenommene bei friedlichen Protesten | Gefängnisinsassen |
Grün | Kennzeichnet ungewöhnliches Aussehen (Dreadlocks, blaue Haarfarbe, Piercings, Tätowierungen bei Frauen). | Kennzeichnet Verurteilte gemäß Artikel 328, d. h. für Drogendelikte. |
Gelb | Kennzeichnet Menschen, die fragen, warum sie inhaftiert wurden, Beamte auffordern, ihren Namen zu nennen, etc. Sie werden gefoltert und misshandelt, aber im Allgemeinen nicht verkrüppelt. Ihre Gesundheit wird geschädigt, aber es besteht die Möglichkeit, dass die Person nicht behindert bleibt. |
Kennzeichnet Antifaschisten, „Extremisten“ (äußern sich regierungskritisch in sozialen Netzwerken). Sie müssen bei Kontrollen immer in erster Reihe stehen, erhalten nur Briefe mit alltäglichen Informationen und müssen jede Anweisung der Verwaltung genau befolgen, andernfalls werden ihnen Anrufe, Besuche und Warensendungen verweigert oder sie werden in Isolationshaft verbannt. |
Rot | Kennzeichnet diejenigen, die versuchten, sich friedlich der Inhaftierung zu widersetzen, zum Beispiel, wegzulaufen. Werden brutaler Folter unterzogen und tragen oft schwere gesundheitliche Schäden oder eine Behinderung davon. |
Kennzeichnet diejenigen, die zur Flucht- oder Selbstmordversuchen neigen. Verschärfte Bedingungen. Ständige Kontrollen und erhöhtes Risiko von Folter. |
Weiß | Nicht mit einer Farbe markiert. Keine Folter und Misshandlung, werden meist nach der Erstellung des Vernehmungsprotokolls entlassen. | Weißes Kennzeichen. Die mildesten Haftkonditionen. Die Person erhält praktisch alles, worauf sie einen gesetzlichen Anspruch hat. |
Schwarz (?) | Nach unbestätigten Informationen Folter mit möglicherweise tödlichen Folgen. | Keine Informationen vorhanden. |
Wir fordern den sofortigen Stopp der Farbmarkierung von Inhaftierten, die in einer grausamen Folterskala und Verkrüppelung durch Misshandlungen mündet.
Wir halten es für inakzeptabel, dass in Belarus gelbe Markierungen verwendet werden, um politisch aktive Bürger in Haftanstalten erkennbar zu machen.
Wir rufen dazu auf, am 23. November 2020 als Zeichen der Solidarität mit den friedlichen Bürgern von Belarus, die wegen ihrer politischen Haltung und ihres friedlichen Protests misshandelt und gefoltert wurden, in sozialen Netzwerken ein Bild eines gelben Rechtecks zu veröffentlichen oder ein Foto von sich selbst mit einem gelben Viereck oder einem Dreieck zu machen, demselben gelben Abzeichen, das politische Gefangene in Belarus tragen müssen.