Opfer von Gewalt bei Protesten können lange darauf warten, dass ihre Beschwerden über Gewalttaten geprüft werden; die Repressionen in Belarus nehmen zu; Zentralregister zur Erfassung von Straftaten veröffentlicht eine neue Liste von Namen und Fakten von Verbrechen gegen Zivilisten
20. Januar 2021 | BYHelp-Mediagroup
Geänderte Strafprozessordnung: Opfer der Gewalt bei Protesten werden womöglich so lange auf die Überprüfung ihrer Beschwerden warten, bis sie nicht mehr gültig sind
Die Anwälte Sjarhej Sikrazki und Michail Badnartschuk haben die geänderte Strafprozessordnung studiert und festgestellt, dass sich die Dauer der Voruntersuchung geändert hat. Gemäß der vorherigen Version der Strafprozessordnung betrug die Frist der Voruntersuchung maximal sechs Monate. Daher hofften die Opfer der Gewalt bei Ablauf von sechs Monaten auf eine Antwort auf ihre Anträge, entweder dass ein Verfahren eingeleitet wird oder dass der Antrag abgelehnt wird. Die neue Strafprozessordnung sieht nun die Möglichkeit vor, die Voruntersuchung für einen Zeitraum von mehr als drei Monaten auszusetzen, die maximale Dauer ist nicht festgelegt. Somit können die Ermittlungsbehörden die Voruntersuchung in Strafsachen auf unbestimmte Zeit aussetzen. Die meisten Änderungen der Strafprozessordnung treten im April 2021 in Kraft. Das Recht, die Voruntersuchung für mehr als drei Monate auszusetzen, hat die Ermittlung unmittelbar nach der offiziellen Veröffentlichung des Gesetzes am 14. Januar 2021 bekommen. Dies bedeutet, dass Opfer der Gewalt bei den friedlichen Kundgebungen vom 9. bis 12. August möglicherweise so lange darauf warten, dass ihre Beschwerden untersucht werden, bis sie ungültig werden. Laut Anwälte ist es auch ein wichtiges Detail, dass die Antragsteller nach der Meinung der Strafverfolgungsbehörden nicht berechtigt sind, sich vor dem Abschluss der Voruntersuchung die Unterlagen anzusehen (weshalb sich die Mutter von Raman Bandarenka und ihr Anwalt die Materialien der Voruntersuchung noch nicht ansehen durften). In der Zwischenzeit haben einige der Opfer bereits Antworten vom Ermittlungskomitee erhalten, in denen sich die Behörde weigert, ein Strafverfahren einzuleiten. Kürzlich hat die Mitarbeiterin eines IT-Unternehmens eine solche Ablehnung bekommen, der die Bereitschaftspolizei das Bein gebrochen hatte. Im November wurde dem Wirtschaftsanalysten Jury Krywaschej mitgeteilt, das das Ermittlungskomitee kein Strafverfahren in seiner Sache eröffnen wird.
Belarusische Gerichte fungieren weiterhin als Instrument der Unterdrückung, und von Logik und Rechtmäßigkeit kann keine Rede mehr sein
Das Gericht des Minsker Bezirk Maskouski verurteilt den 20-jährigen Studenten Uladsimir Chamitschkou, der beschuldigt wurde, sich acht Bereitschaftspolizisten widersetzt zu haben und aktiv an Gruppenaktionen teilgenommen zu haben, die die öffentliche Ordnung schwer verletzen. Es geschah am Abend des 14. Juli in Minsk. Uladsimir wurde zu 4 Jahren Haft in einer Strafkolonie und einer Geldstrafe von ca. 6.000 Rubel (2.000 Euro) verurteilt. Er gab seine Schuld nicht zu, sagte, dass er an diesem Tag spazieren ging und ein Café betrat, um Eis zu kaufen, wo er mit Gewalt festgenommen wurde. In dem vor Gericht präsentierten Video ist das Gesicht des Festgenommenen nicht sichtbar.
In Hrodna verhängte das Gericht eine Geldstrafe von 580 belarusischen Rubel (200 Euro) gegen Ljubou Sarlaj, die in einer Hose mit weiß-roten Streifen rausging, um sich einen Kaffee zu holen. Sie wurde beschuldigt, gegen das Verfahren zur Durchführung von Massenveranstaltungen verstoßen zu haben (Artikel 23.34 des Verwaltungsgesetzbuchs).
Das Gericht der Stadt Hrodna behandelt den „Fall Tichanowski“. Auf der Anklagebank sind die ersten Festgenommenen während der Mahnwache im Mai. Laut Ermittlung hätten Sergej Tichanowski und Dsmitry Furmanau eine nicht genehmigte Kundgebung im Voraus geplant. Sie hätten vorgetäuscht, Unterschriften zu sammeln, und nutzten dabei die Formalität, dass dafür keine Genehmigung der örtlichen Behörden erforderlich war.
Ein Aktivist aus Bjarosauka Witald Aschurok bekam fünf Jahre Straflager für die Teilnahme an Gruppenaktivitäten, die die öffentliche Ordnung schwer verletzen, und Gewalt gegen einen Polizisten. Dies ist bisher die längste Haftstrafe, die für die Teilnahme an den Protesten im Sommer 2020 verhängt worden ist.
Heute wurden im Gericht der Stadt Lida etwa 8 Personen festgenommen, die gekommen waren, um den Elektroinstallateur Iwan Kaspjarowitsch zu unterstützten, der den Telegram-Kanal „Volkstribunal von Lida“ moderiert hatte. Sie alle kamen, um Iwan zu unterstützen. Laut Informationen von [Fernsehsender] Belsat stehen die heutigen Verhaftungen im Zusammenhang mit der Situation, die während der Verkündung des Urteils von Witald Aschurok am 18. Januar stattfand, der zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Damals haben die Leute im Gerichtssaal direkt nach der Urteilsverkündung angefangen, „Schande!“ und „Glauben! Können! Siegen!“ zu rufen. Es wurde daraufhin ein Strafverfahren eingeleitet, und die heutigen Verhaftungen stehen damit in Zusammenhang.
Ein Gericht untersuchte den Fall des Unternehmers Waler Astrynski, der wegen einer weiß-rot-weißen Fahne auf seinem Bauernhof festgenommen wurde. Er bekam eine Geldstrafe von 20 Grundeinheiten (180 Euro).
Die belarusische Muay-Thai-Meisterin Anastasija Kalaschnikowa wurde vom Gericht zu einer Geldstrafe von 870 Rubel (270 Euro) verurteilt. Sie wurde am Nachmittag des 17. Januar festgenommen. Die junge Frau ist nicht nur Sportlerin, sondern auch Rettungssanitäterin.
Der 59 Jahre alten Iryna Paulowitsch brach man bei ihrer Festnahme den Arm; sie erhielt eine Geldstrafe von 1.450 Rubel (450 Euro). Die Frau wurde am 16. Januar festgenommen. Sie wurde niedergeschlagen, woraufhin ein Polizist sie mit seinem Fuß am Boden festhielt. Bestraft wurde sie, weil sie angeblich der Polizei nicht gehorcht hatte: Ein anonymer Zeuge von der Polizei behauptete vor Gericht, die Frau habe sich geweigert, in den Dienstwagen zu steigen, öffnete die Arme und klammerte sich an die Uniform.
Ein Einwohner von Dsjarshynsk Vital Buinouski, der die japanische Fahne bei sich zu Hause aufgehängt hatte, wird wegen einer nicht autorisierten Mahnwache angeklagt.
Ein Einwohner von Minsk Wiktar Maros ist zu 14 Tagen Haft verurteil worden. Am Abend des 5. Januar verteidigte er eine Nachbarin, die von unbekannten Personen festgenommen wurde. Wie sich später herausstellte, waren es Sicherheitsbeamte. Maros wurde ebenfalls festgenommen und landete dann mit Verletzungen im Notfallkrankenhaus.
Unternehmer und Oppositioneller Smizer Daschkewitsch bekam 15 Tage Haft. Der Aktivist wurde wegen Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung angeklagt. Er stand mit einer weiß-rot-weißen Fahne am Eingang des Restaurants in der Nähe der Gedenkstätte Kurapaty, wo in den 1930er Jahren Zehntausende Menschen erschossen wurden.
Menschenrechtszentrum „Viasna“ gab die Festnahme eines Menschenrechtsverteidigers Leanid Sudalenka bekannt. Anfang Januar wurde Leanids Wohnung durchsucht, seine Bankkarten und sein Laptop wurden mitgenommen.
Dies ist nur ein kleiner Teil der Verhaftungen und Gerichtsverfahren, die jeden Tag in Belarus aufgrund weit hergeholter und höchst absurder Anschuldigungen stattfinden.
Zentralregister zur Erfassung von Straftaten veröffentlicht weitere Verbrechen
Der Telegram-Kanal des „Zentralregisters zur Erfassung von Straftaten“ kündigte eine neue Liste der Fälle an, die mit Hilfe von Ermittlern, Anwälten und Staatsanwälten auf der Grundlage von Anzeigen wegen rechtswidriger Handlungen gegen Zivilisten durch Vertreter der Sicherheitskräfte erstellt wurde.
Es werden die Namen der Angeklagten in den Fällen bekannt gegeben, für die es zwar Beweise, aber kein Geständnis oder keine Widerlegung der begangenen Straftat gab. Unter ihnen sind Vertreter von Strafverfolgungsbehörden, Richter und Mitglieder von Wahlkommissionen. Die neuen Informationen werden auch an unabhängige Projekte übergeben, die sich für die Erweiterung der Sanktionslisten einsetzen, und an die litauische Justiz für Verfahren gemäß universeller Gerichtsbarkeit weitergeleitet. Nach dem Machtwechsel im Land werden alle diese Informationen vom Ermittlungskomitee und der belarusischen Staatsanwaltschaft verwendet.
In der Zwischenzeit arbeitet die Gruppe weiter an neuen und zuvor eingereichten Anträgen; derzeit gibt es mehr als tausend davon. Die 676 angenommene und geprüfte Anträge umfassen folgende Straftaten:
– 182 Verbrechen gegen die Rechte der Bürger;
– 232 Fälle der Folter und Gewalt;
– 9 Morde;
– 223 Fälle von Amtsmissbrauch;
– 30 andere.
Alle eingehenden Informationen werden von Experten in Übereinstimmung mit dem Gesetz geprüft und systematisiert. Die nächste Veröffentlichung der verifizierten Informationen ist für den 20. Februar geplant.
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