Ein Experte erklärt, was die IOC-Sanktionen für Belarus wirklich bedeuten

8. Dezember 2020, 16:15 | Wiktoryja Kawaltschuk, TUT.BY
Anatol Kotau.
Source: Privataufnahme via TUT.BY

Der Leiter der Abteilung für Außenbeziehungen des Belarusischen Fonds für Sportsolidarität und frühere Generalsekretär des Nationalen Olympischen Komites von Belarus, Anatol Kotau, äußerte sich gegenüber TUT.BY über die vom IOC-verhängten Sanktionen. Welche Summen das Olympische Komitee von Belarus aufgrund der eingefrorenen Finanzierung einbüßen wird, ob unser Team bei den Olympischen Spielen unter neutraler Flagge spielen wird und warum die Frage der Aufhebung der Sanktionen direkt von der politischen Situation im Land abhängt – lesen Sie ein ausführliches Interview mit der Journalistin von SPORT.TUT.BY Wiktoryja Kawaltschuk.

Es lässt sich nicht mehr sagen, Sport habe mit Politik nichts zu tun. Denn in Belarus ist alles politisch geworden.

Was waren für das Internationale Olympische Komitee die wichtigsten Aspekte bei der Verabschiedung von Sanktionen gegen das Nationale Olympische Komitee von Belarus?

Diese Entscheidung des IOC war schon lange im Werden. Bereits Ende September – Anfang Oktober dieses Jahres machte das Internationale Olympische Komitee darauf aufmerksam, dass im belarusischen Sport im Jahr 2020 etwas verkehrt läuft. Es gab Kommunikation mit Sportlern, mit dem Belarusischen Fonds für Sportsolidarität und dem Olympischen Komitee von Belarus.

Das Internationale Olympische Komitee forderte Informationen [über die Situation in unserem sportlichen Bereich] beim Olympischen Komitee von Belarus an, aber dort antwortete man wie immer, dass im belarusischen Sport alles in bester Ordnung sei, alles in Übereinstimmung mit dem Gesetz erfolge, ungeachtet dessen, dass das IOC tatsächlich den Beginn einer Untersuchung der Situation im belarusischen Sport angekündigt hatte.

Das heißt, bereits im Oktober hat es für das Nationale Olympische Komitee von Belarus alarmierende Hinweise gegeben, dass es möglicherweise nicht gut ausgehen könnte, wenn keine Maßnahmen zum Schutz belarusischer Athleten ergriffen würden, vor allem vor Diskriminierung aus politischen Gründen. Trotzdem wurde alles erfolgreich ignoriert.

Nikolaj Koseko und Alexandra Romanowskaja.
Source: Dzmitry Brushko, TUT.BY 

Wie sah die Studie des Internationalen Olympischen Komitees über die Situation im belarussischen Sport konkret aus?

Erst letzte Woche lief eine weitere Befragung belarusischer Sportler durch das IOC. Am Freitag, den 4. Dezember, hörte die IOC-Sonderkommission von einer Reihe von Sportlern ausführliche Erläuterungen zum Entzug von Stipendien, zu den Ausschlüssen aus den Nationalmannschaften und zu den olympischen Perspektiven für Tokio 2021 und Peking 2022.

Welche Sportler haben vor der IOC-Kommission berichtet?

Angesichts der Tatsache, dass das IOC selbst die Personen für die Befragung ausgewählt und diese Namen nicht veröffentlicht hat, wäre es nicht korrekt, wenn die Stiftung sich über interne Verfahren des Internationalen Olympischen Komitees äußern würde. Es ist jedoch leicht zu erraten, dass die meisten Zeugen Sportler sind, die den Brief an das IOC unterschrieben haben.

Hat das IOC auch die Version des belarusischen NOC gehört?

Ja, parallel dazu hat das Olympische Komitee von Belarus dem Internationalen Olympischen Komitee eine entsprechende Erklärung zu den oben genannten Themen übermittelt. Die Stiftung hat keine Gelegenheit gehabt, sich mit ihr vertraut zu machen, aber höchstwahrscheinlich lief alles wieder darauf hinaus, dass der Sport in Belarus den gesetzlichen Vorgaben der Republik Belarus folgt.

Die Erklärungen internationaler Organisationen, einschließlich derer im Rahmen des Moskauer Mechanismus der OSZE, sagen jedoch, dass der Rechtsstaat in Belarus nicht funktioniert. Wir sehen den Bankrott des Rechtsstaats, wo entweder die Gesetze überhaupt nicht beachtet oder nur selektiv angewendet werden.

Source: TUT.BY

In dieser Situation war es schwierig zu verstehen, was sich das Olympische Komitee von Belarus erhofft, wenn es sich auf solche nicht überzeugenden Aussagen stützt und die tatsächliche Situation ignoriert, wenn einerseits Sportler, die einen Brief gegen Gewalt und für Neuwahlen unterschrieben haben, diskriminiert werden und andererseits alle, die nicht bei drei auf den Bäumen sind, gezwungen werden, einen Brief zur Unterstützung einer abstrakten „Stabilität“ zu unterschreiben, oder ihre Unterschriften einfach gefälscht werden. Heute kann man kaum sagen, dass Sport mit Politik nichts zu tun hat, weil sich in Belarus alles in Politik verwandelt hat.

Es sieht so aus, als ob das IOC aufgrund seiner eigenen Untersuchung beschlossen hat, Sanktionen zu verhängen.

Ja, das war keine Momententscheidung, sondern ein langer Prozess, der am 7. Dezember mit einer Sitzung des Exekutivkomitees des Internationalen Olympischen Komitees zu seinem Abschluss kam.

Jetzt hängt alles weitere nicht von den Schritten ab, die das Olympische Komitee von Belarus ergreift, sondern von der allgemeinen Situation im Land.

Wie kann sich die Situation für das Olympische Komitee von Belarus und unsere Athleten weiter entwickeln?

Wie es weiter geht hängt vorwiegend nicht von den Maßnahmen des Olympischen Komitees von Belarus ab, sondern von der Gesamtsituation im Land. Man kann kaum erwarten, dass der belarusische Sport zu einer Insel der Stabilität, Gerechtigkeit und Demokratie wird, wenn um ihn herum völlige Gesetzlosigkeit herrscht.

Es ist schwer vorstellbar, was das Olympische Komitee jetzt tun kann, um die Rechte der Sportler zu schützen, die wegen ihrer politischen Überzeugungen gelitten haben. Rein theoretisch kann natürlich alles zurückgespult werden: Elena Lewtschenko kann für die Tage in der Akreszina-Gasse entschädigt werden, Olga Masurenok könnte das Stipendium zurückbekommen, das ihr genommen wurde, die Leichtathletin Darja Borisewitsch könnte ihren Job wieder aufnehmen… Formal ist dies alles möglich.

Olympiasieger Andrei Krawtschenko nach 10 Tagen Haft.
Source: TUT.BY

Aber dann muss man über die belarusischen Sportler, die sich nicht scheuen, ihre Unzufriedenheit mit dem Geschehen im Land zum Ausdruck zu bringen, eine Kristallglocke stülpen, damit die Strafverfolgungsbehörden sie umgehen, sie nicht schlagen, sie nicht festnehmen und keine Geldstrafen gegen sie verhängen.

Ich glaube zwar nicht wirklich, dass es möglich ist, 1.500 Menschen unter diese Kuppel zu stellen, die den Brief gegen Gewalt unterschrieben haben, und ihnen allen einen Schutzbrief auszustellen.

Deshalb wird die weitere Entwicklung der Situation von der Gesamtentwicklung im Land abhängen.

Was kann zur Aufhebung der Sanktionen beitragen?

Wenn endlich jemand begreift, dass es falsch ist, die eigenen Bürger zu verprügeln und zu foltern, und wenn man sich zumindest dafür entschuldigt (und ernsthaft untersucht wird, was in den letzten vier Monaten geschehen ist), dann ist es durchaus möglich, dass die Sanktionen aufgehoben werden. Aber bislang deutet nichts darauf hin, dass dieses Szenario nicht reine Fantasie ist.

Gegen die Führung des Nationalen Olympischen Komitees sind derzeit strenge, aber vorläufige Sanktionen verhängt, und zusätzliche Mittel für das Olympische Komitee aus verschiedenen olympischen Solidaritätsprogrammen sind eingefroren worden.

Wie wahrscheinlich ist es, dass die belarusische Nationalmannschaft unter neutraler Flagge spielt oder von den Olympischen Spielen ausgeschlossen wird?

Wenn in Belarus alles so bleibt, wie es ist, oder es noch schlimmer wird, wird das Internationale Olympische Komitees wahrscheinlich den Druck erhöhen.

Die Teilnahme unter neutraler Flagge ist leider eine sehr wahrscheinliche Aussicht, die sich für die belarusische Olympiamannschaft, die sich derzeit auf die Spiele in Tokio vorbereitet, abzeichnet.

Source: Reuters via TUT.BY

Die Sperre der Teilnahme an den Olympischen Spielen wäre die äußerste Konsequenz. Ich möchte absolut nicht, dass unsere Athleten ausgeschlossen werden, unter einer neutralen Flagge oder in einer Flüchtlingsmannschaft spielen. Aber von Tag zu Tag wird das immer wahrscheinlicher. Und jetzt hängt dieses Problem nicht in erster Linie vom Olympischen Komitee ab, sondern von der obersten Führung des Landes.

Wir sägen weiterhin an dem Ast, auf dem wir sitzen. Aber anscheinend braucht das Olympische Komitee von Belarus nicht wirklich Geld und hat irgendwo genug im Budget.

Das IOC hat das Einfrieren der Finanzierung des Nationalen Olympischen Komitees angekündigt. Schauen wir uns dieses Problem genauer an. Wohin floss das vom Internationalen Olympischen Komitee zugeteilte Geld?

Das IOC unterstützte Sportler gezielt und gewährte dem Olympischen Komitee Fördergelder für bestimmte Programme.

Gezielte Zuschüsse für Athleten, die sich auf die Olympischen Spiele vorbereiten und IOC-Stipendien erhalten, werden weiterhin ausgezahlt. Der Zufluss der übrigen Mittel, die zur Entwicklung der olympischen Bewegung in Belarus verwendet werden könnten, wird sich jedoch verringern.

Was meint die eher vage Formulierung „Entwicklung der olympischen Bewegung“?

Alle vier Jahre beschließt das IOC eine Liste von Programmen, an die zusätzliche Förderanträge gestellt werden können. Dies kann ein Projekt zur olympischen Ausbildung, zur Unterstützung von Nationalmannschaften oder zur Weiterbildung von Trainern sein. Jährlich wird ein Zuschuss zur Unterstützung der Verwaltungstätigkeit des Nationalen Olympischen Komitees gewährt. Nationale olympische Komitees können eine Finanzierung für diese Programme beantragen oder nicht. Dies ist freiwillig.

In sehr aktiven Jahren (in der Regel in den Jahren der Olympischen Spiele) kann die Höhe der durch das IOC bezogenen Mittel eine Million Dollar erreichen. Dieser Betrag kam dadurch zustande, dass das NOC auch eine Entschädigung für die Teilnahme der Nationalmannschaft an den Olympischen Spielen erhielt.

Source: Reuters via TUT.BY

Wenn keine Anträge für diese Programme eingereicht werden, kann sich die Unterstützung durch das IOC auf ein paar hunderttausend Dollar reduzieren.

Auf jeden Fall kann man derzeit kaum mit potenziell guten Investitionen in die Entwicklung des belarusischen Sports rechnen. Die Finanzierung dieser Programme ist derzeit ausgesetzt. Wir sägen weiterhin an dem Ast, auf dem wir sitzen. Aber anscheinend braucht unser NOC dieses Geld nicht wirklich und irgendwo im belarusischen Haushalt gibt es genug.

Wie sah die gezielte Finanzierung von Athleten früher aus? Das IOC schickte das Geld an das Nationale Olympische Komitee und dieses wiederum gab Geld an die Sportler weiter?

Alles hängt vom jeweiligen Programm ab. In einem bestimmten Zeitraum, ungefähr zwei Jahre vor den Olympischen Spielen, ist es möglich, eine Finanzierung für einen individuellen Sportler zu beantragen, der ernsthafte Chancen hat, sich auf die Olympischen Spiele vorzubereiten und daran teilzunehmen.

Diese Athleten erhielten vom IOC Mittel, um für Trainingseinrichtungen, die Arbeit der Trainer, pharmakologische und medizinische Unterstützung zu zahlen und ihre eigenen Stipendien zu decken. Das IOC überwies dieses Geld an das Nationale Olympische Komitee und dieses reichte es an die Athleten weiter.

Wird das gezielte Förderprogramm für Sportler auch jetzt über das Nationale Olympische Komitee realisiert oder wird das IOC damit beginnen, Geld direkt an Sportler auszuzahlen?

Ich kenne keine Präzedenzfälle, in denen das Internationale Olympische Komitee Sportler auf eine andere Weise unterstützt hat als über das NOC, mit Ausnahme der Flüchtlingsmannschaft. Aber hoffentlich kommt es nicht so weit.

Die gezielte Unterstützung der Athleten wird weiterhin über das Nationale Olympische Komitee von Belarus erfolgen. Das Nationale Olympische Komitee kann dieses Geld jedoch nur für die angegebenen Ziele ausgeben, da es ein striktes System der Rechenschaftspflicht gegenüber dem IOC und eine Wirtschaftsprüfung gibt.

Sport wurde in Belarus immer zu Propagandazwecken eingesetzt. Und das hier ist ein schwerer Schlag.

Source: president.gov.by via TUT.BY

Derzeit stehen Mitglieder des Exekutivkomitees des Nationalen Olympischen Komitees unter Sanktionen. Werden die Sanktionen automatisch aufgehoben, wenn sie aus dem Exekutivkomitee ausscheiden?

Ja, weil das IOC keine persönlichen, sondern funktionale Sanktionen verhängt hat. Das heißt, die Sanktionen wurden beispielsweise nicht gegen Ljubow Tscherkaschina, sondern gegen Ljubow Tscherkaschina als Mitglied des Exekutivkomitees verhängt.

Das heißt, jemand wie Ljubow Tscherkaschina wird als Cheftrainerin der belarusischen Nationalmannschaft an den Spielen in Tokio teilnehmen können, wenn sie nicht mehr Mitglied des Exekutivkomitees ist?

Theoretisch ja. Das IOC meldete, dass im Februar in Belarus eine olympische Versammlung stattfinden soll, bei der eine neue Führung gewählt und ein neues Exekutivkomitee gebildet wird.

Glauben Sie, dass die angekündigten Sanktionen die Arbeit des NOC von Belarus wirklich erschweren werden, oder sind sie eher eine Formalität?

Neben der finanziellen Komponente ist die Verhängung von Sanktionen auch ein sehr schwerwiegender Imageschaden.

Die Sanktionen wirken sich auf die Teilnahme von Belarus an Veranstaltungen aus, die vom IOC, dem Europäischen Olympischen Komitee und von internationalen Verbänden organisiert werden. Selbst wenn die belarusische Delegation zu den Veranstaltungen eingeladen wird, wird sich alles auf einer anderen Ebene abspielen. Dies betrifft auch Fragen des ausländischen Sponsorings, auch wenn das für uns eine weniger relevante Sache ist.

Schließlich kann das auch Auswirkungen für große olympische Sportereignisse in Belarus haben. Der Hochleistungssport wurde in unserem Land immer zu Propagandazwecken missbraucht. Aber jetzt erhielt er einen schweren Schlag im Hinblick auf die Bewertung durch die höchste Organisation im internationalen Sport.