Über die Situation in Unternehmen, deren Mitarbeiter an Protestaktionen teilgenommen haben
29 August 2020, 00:23 | Anna Rybchinskaya / Alexandra Kvitkevich / Dmitry Bobkov, FINANZEN.TUT.BY
Mitarbeiter großer Unternehmen haben in großer Zahl an Solidaritätskundgebungen teilgenommen. So gingen zum Beispiel MTS-Mitarbeiter am 14. August ins Zentrum von Minsk und ein paar Tage später erneut, gemeinsam mit Kollegen von MAS und MSKT. Arbeiter von Belaruskali, Grodno Nitrogen und BELAS nahmen ebenfalls an Kundgebungen teil. Arbeiter von MSKT äußerten ihre Unzufriedenheit mit dem, was im Land passiert – gerichtet nicht nur an die Betriebsführung sondern später auch an Alexander Lukaschenko. Sein Rücktritt stand im Zentrum des Ultimatums der empörten Arbeiter von Naftan, Belaruskali, Grodno Nitrogen und Grodnoshilstroi. Danach kehrte jedoch eine gewisse Ruhe ein. FINANZEN.TUT.BY fragte, wie die Stimmung in den Unternehmen derzeit ist.
„Es gibt Menschen, die ihre hochbezahlten Jobs für ihre Freiheit geopfert haben.“ Wie sieht es jetzt in Großunternehmen aus?
Behörden und Unternehmensleitungen versuchen inzwischen, die Unzufriedenheit der Fabrikarbeiter zu zerstreuen – sie drohen mit Entlassungen, Gehaltskürzungen, Entschädigungsforderungen aufgrund entgangener Gewinne sowie der Inhaftierung von Mitgliedern der Streikkomitees (einige von ihnen mussten das Land verlassen und einige, wie Sergej Dilevsky von MTS und Alexander Lavrinovich von MSKT- wurden inhaftiert). Dennoch sind die Streikkomitees in einzelnen Unternehmen nach wie vor recht aktiv. Eines von ihnen ist Belaruskali. Seine Aktivisten erörtern die Möglichkeit, ein übergreifendes Streikkomitee zu schaffen, das alle Unternehmen und auch selbstständige Unternehmer der Stadt Soligorsk umfassen wird. Die Streikenden versammeln sich regelmäßig auf dem zentralen Platz der Stadt und bitten die Bewohner der Stadt, die Bergleute zu unterstützen. „Wir wissen, dass sie mental und körperlich genauso müde sind wie wir. Es gibt Menschen, die ihre hochbezahlten Jobs für ihre Freiheit geopfert haben. Vielleicht gibt es nicht so viele, wie wir uns das wünschen würden, aber trotzdem gibt es sie“, so das Streikkomitee.
Und obwohl die Fabrikarbeiter im Allgemeinen aufgehört haben, sich aktiv an Solidaritätsbekundungen im Land zu beteiligen, bedeutet dies nicht, dass ihre Unzufriedenheit mit der Situation im Land verschwunden ist. Sie unterhalten sich und diskutieren weiterhin die Probleme, die sich im Land aufgetürmt haben – von den Wahlergebnissen und der Forderung, Neuwahlen abzuhalten bis zur Gewalt durch die Sicherheitskräfte. Viele verlassen die staatlich gelenkten Gewerkschaften, und in einigen Fabriken wird weiterhin die Option von Streiks diskutiert, Unterschriften werden zu diesem Zweck gesammelt. In regelmäßigen Abständen gehen einige Fabrikarbeiter zu kurzfristigen Solidaritätsaktionen, wie diese Woche die Arbeiter von „Grodno Nitrogen“ und BELAS. Die Arbeiter eines der großen Werke diskutieren nun über die Idee, dass die Arbeitskollektive ab nächster Woche, wie ein Demonstrationszug gemeinsam zur Arbeit kommen: „Wenn sie uns dann festnehmen, wird niemand arbeiten.“
In der Zwischenzeit wurden mehr als 1,8 Millionen Dollar für die Arbeiter gesammelt, die durch Entlassungen in Not geraten sind. Diese Unterstützung kam beispielsweise bereits einigen MAS-Mitarbeitern zugute, die ihren Arbeitsplatz verloren haben.
Die Lage in einzelnen Unternehmen
Das belarussische Stahlwerk (BMS), in dem ursprünglich ab dem 20. August gestreikt werden sollte, ist weiterhin in Betrieb. Mitarbeiter berichten, dass auf die Belegschaft Druck ausgeübt wird. „Es gibt Drohungen und Einzelgespräche mit der Betriebsleitung.“ Außerdem untersucht das Unternehmen die Abschaltung der Hochöfen am 17. August. Damals stoppten Arbeiter alle drei Öfen für mehrere Stunden und ließen Betriebsfremde, Leute aus der nahe gelegenen Stadt, auf das Gelände des Unternehmens.
Daraufhin nahm das BMS Änderungen an den Regelungen zur betrieblichen Sicherheit vor. So kann man nur mit Hilfe eines personalisierten Betriebsausweises, der dem Sicherheitsmitarbeiter auf Aufforderung vorgelegt werden muss, das Gelände des Unternehmens betreten oder verlassen.
Arbeiter werden frühestens eine Stunde vor Arbeitsbeginn auf das Betriebsgelände gelassen und müssen es innerhalb einer Stunde nach Schichtende verlassen haben. Außerhalb der Arbeitszeit können die Mitarbeiter das Gelände nur mit Erlaubnis des jeweiligen Abteilungsleiters betreten.
„Die Arbeiter verlassen weiterhin die regierungsnahe Gewerkschaft, aber es sind noch nicht sehr Viele. Die Gewerkschaft ist gewarnt und bereitet sich darauf vor, den Tarifvertrag an diesem Freitag intern neu zu verhandeln. Es gibt Gerüchte, dass sie einige Zahlungen (Prämien, Zuschläge für Dienstalter oder Urlaub) an die Mitgliedschaft in der Gewerkschaft koppeln wollen, berichten die Arbeitnehmer.
Im Traktorenwerk beginnen die Arbeiter, die staatliche Gewerkschaft zu verlassen. Das berichten die Mitarbeiter des Unternehmens.
„Jeder versteht, dass wir legal keinen Streik ausrufen können, obwohl eine klare Mehrheit dafür steht. Das Management leistet eine erstaunliche Arbeit, die Mitarbeiterschaft zu spalten und einzuschüchtern, aber wir werden nicht aufgeben“, sagt einer der Mitarbeiter des Unternehmens. „Die Führung des Streikkomitees betrachtet es weiterhin als notwendig, die staatliche Gewerkschaft zu verlassen und in eine unabhängige Gewerkschaft einzutreten. Wenn mehr als 50% von uns dorthin wechseln, müssen wir einen Tarifvertrag mit der unabhängigen Gewerkschaft abschließen. Einige Arbeitnehmer haben die staatliche Gewerkschaft bereits verlassen. Andere warten noch. Dafür gibt es gute Gründe: Bislang wird die Kündigung vom Arbeitgeber und der Gewerkschaft unterzeichnet. Wenn Sie die Gewerkschaft verlassen, können Sie einfach vom Arbeitgeber gefeuert werden.
Darüber hinaus planen die Mitarbeiter des Unternehmens eine Generalversammlung, auf der sie die nächsten Schritte besprechen wollen.
„Im Moment haben wir bereits eine Aktionsgruppe gebildet, die Beteiligten kennen sich gut und betreiben aktiv Aufklärungsarbeit“, sagen die Arbeiter.
Über eine geplante einmonatige „Dienstreise” von etwa 20 politisch aktiven Mitarbeitern in die Werkzeugfabrik in Orscha, wird nicht mehr gesprochen.
„Die Männer haben es geschafft, sich zu wehren“, sagen die Mitarbeiter des Unternehmens.
Im MSKT, dessen Geschäftsführer zuvor gesagt hatte, dass „Lukaschenko die Wahl nicht gewonnen hat“ und dessen Arbeiter zu den Solidaritätskundgebungen gingen und „Lukaschenko, Hau ab!” riefen, ist es in der Zwischenzeit relativ ruhig geworden.
„Es ist auf den ersten Blick sehr ruhig. Kürzlich wurde der leitende Elektronikingenieur Alexander Lavrinovich, Vorsitzender des MSKT-Streikkomitees, der Unterschriften für den Streik im Unternehmen sammelte, von Beamten in Zivil festgenommen. Er wurde direkt am Arbeitsplatz verhaftet. Im Unternehmen werden diejenigen, die versuchen, die Initiative zu ergreifen, eingeschüchtert und zu Gesprächen geholt, in denen sie bedroht werden”, teilt einer der Mitarbeiter mit.
„Aber trotz alledem lässt der Zorn der Arbeiter nicht nach, die Leute haben den Weg des „italienischen Streiks“ gewählt. Sie sind sehr solidarisch, obwohl sie versuchen, nicht aufzufallen. Im Allgemeinen ist das MSKT wie ein Pulverfass: nur ein Funken reicht aus. Und die Werksleitung tut alles, um solche Funken zu verhindern.
„Die Arbeiter sind empört, sie fürchten aber auch um ihre Familien und die Zukunft. Sie sagen, wenn alle gehen, dann werden wir auch zu den Protesten gehen. Der älteren Generation ist das, was gerade passiert, egal. Sie wollen nur noch bis zum Renteneintritt arbeiten, und dass das Gehalt zum Leben reicht“, sagt ein anderer MSKT-Mitarbeiter.
MAS-Beschäftigte sagen, dass im Unternehmen derzeit Unterschriften für die Absetzung eines Abgeordneten gesammelt und Austrittserklärungen aus der staatlichen Gewerkschaft geschrieben werden. „Es ist nicht so, dass sie in Massen austreten, aber es wurden schon eine beträchtliche Zahl an Austrittserklärungen verfasst“, sagt einer der Mitarbeiter. Ihm zufolge ist die „Situation schwierig“ im Betrieb. „Die Gespräche über den Streik haben nachgelassen, da viele der Menschen, die offen streiken oder gestreikt haben, eingeschüchtert oder gefeuert wurden“, sagt der Mitarbeiter. Er fährt fort, dass wegen der Entlassung einiger Mechaniker, Arbeiter aus anderen Abteilungen am Fließband arbeiten müssen. Nach seinen Worten „kann es Probleme mit der Produktivität geben“.
Die Informationen über die Situation bei Belaruskali sind widersprüchlich. Zum Einen gab das Unternehmen selbst am Abend des 19. August an, dass alle sieben Firmenteile wie geplant in Betrieb seien, sowie drei der vier Verarbeitungsbetriebe, während der verbleibende Produktionsort erst nach Abschluss der geplanten Reparaturen weiterbetrieben werde. Gleichzeitig gibt es Informationen, dass ein kleiner Teil der Bergleute nach wie vor noch streikt. Abends versammeln sich streikende Arbeiter und solidarische Anwohner auf dem zentralen Platz der Stadt, teilte das Streikkomitee mit.
Die Mitarbeiter von Naftan hatten angekündigt, ab dem 29. August in den Streik zu treten, wenn Alexander Lukaschenko bis dahin nicht zurücktritt. Im Unternehmen wurden Unterschriften für einen offenen Appell an das belarussische Volk gesammelt. Doch nach Auszählung der Stimmen unter dem Appell der Fabrikarbeiter am 20. August, ist keine Rede mehr von Streik bei Naftan. Laut den Aussagen der Mitarbeiter ist die Unzufriedenheit mit der Situation im Land jedoch nicht verflogen. Im Moment diskutieren einige Arbeitnehmer unter anderem über den Austritt aus den staatlichen Gewerkschaften und sammeln Unterschriften für die Absetzung von Abgeordneten.
Die Arbeiter von Grodnoschilstroi wollten ursprünglich ab dem 21. August streiken. Sie hielten eine geheime Abstimmung über den Streik ab. Nach Angaben der Bauarbeiter stimmte die Mehrheit der Beschäftigten dafür – 1950 Stimmen waren pro Streik, 638 dagegen. Die Bauarbeiter teilten dieses Ergebnis der Verwaltung des Unternehmens offiziell mit. Es wurde beschlossen, dass nur Sicherheitsmitarbeiter, darunter Feuerwehrleute und Techniker, die Heizungsanlagen, Arbeiterwohnheime und andere öffentliche Bereiche absichern, ihre Arbeit nicht niederlegen würden.
Aber am Ende nahmen viele Arbeiter ihre Schichtarbeit am 21. August doch wieder auf. Manche von ihnen erläuterten, dass sie in den letzten sechs Tagen aktiv gestreikt und die Tätigkeit an den Arbeitsorten eingestellt hätten. Am Ende fühlten sich viele von ihnen unter Druck gesetzt, und so beschlossen die Bauarbeiter, den aktiven Streik nicht weiter auszudehnen, obwohl die Unzufriedenheit der Leute nach wie vor da ist.
Eine Mitteilung vom 24. August besagt, „dass der Streik wegen der Weigerung der Arbeitnehmer, sich daran zu beteiligen, beendet wird“.
Unterdessen hatten die Mitarbeiter von Grodno Nitrogen am Vortag ein hitziges Zusammentreffen mit dem Gouverneur der Region Grodno, Vladimir Karanik. Sie befragten ihn natürlich zu Themen, die die Angehörigen des Betriebes in diesen Tagen bewegen und besorgen. Sie erkundigten sich unter Anderem nach den Wahlergebnissen, den Toten der Proteste, der Auszeichnung von Sicherheitskräften, dem Informationskrieg, der Polizeigewalt, nach Lukaschenko mit dem Sturmgewehr in der Hand. Am Dienstag wurden einige Mitarbeiter von „Grodno Nitrogen“ festgenommen, die nach der Arbeit in die Innenstadt zogen.
Aktivisten des gescheiterten Streiks im Unternehmen Belschina wurden entlassen. Die Arbeiter von BELAS gingen am 26. August nach der Arbeit zu einer Protestveranstaltung.