Das Wichtigste über die Ereignisse seit dem Wahltag
12. August 2020, 12:46 | TUT.BY
Das ganze Belarus hat innerhalb von 3 Tagen enorme Probleme mit dem Internet erlebt. Wir alle hoffen, dass diese Probleme am Mittwochmorgen, dem 12. August, enden. Ein Großteil der Bevölkerung bleibt immer noch ungewisst darüber, was genau in diesen drei Tagen passiert ist. Das Land ist voller Gerüchte. Wir haben uns entschlossen, alle wichtigen Ereignisse der letzten Tage in einem Artikel zusammenzufassen.
9. August
In den Wahllokalen in Minsk, in den Regionen und im Ausland – in den Botschaften und Konsulaten von Belarus –herrschte ein enormer Andrang: Die Menschen standen im Wortsinne in kilometerlangen Schlangen, um ihre Stimme abzugeben.
Einige Wahllokale berichteten, dass es nicht genügend Wahlzettel gab. Und die Wahlbeteiligung lag nach den Informationen unabhängiger Beobachter angesichts der Daten zur vorzeitigen Stimmabgabe bei über 100%. In einigen Wahllokalen in Minsk konnten die Menschen vor der Schließung um 20.00 Uhr ihre Stimmen nicht abgeben: Irgendwo wurde die Menge von OMON (Miliz-Sondereinheit) aufgelöst, an einigen Orten wurde die Arbeitszeit der Wahlkommissionen verlängert. Die Vorsitzende des Rates der Republik, Natallia Kotschanowa, kam zu einem der Wahllokale.
Am Ende des Wahltages begann das mobile Internet unter den Nutzern zu verschwinden, und gegen 22.00 Uhr war Belarus praktisch vom Weltnetz isoliert. Es gab Abstürze von Messengers und Websites der führenden Medien des Landes: TUT.BY, Onliner, Komsomolskaja Prawda in Belarus, Nascha Niwa, Nawiny und von anderen. Aufgrund der fehlenden Internetverbindung war es fast unmöglich, ein Taxi zu rufen, sogar per Telefon.
Es wurden die vorläufigen Ergebnisse der Nachwahlbefragung in den staatlichen Fernsehsendern bekannt gegeben. Sie berichteten über den überzeugenden Sieg von Alexander Lukaschenko.
Die Menschen verließen die Wahllokale nicht und warteten auf die Bekanntgabe der Ergebnisse. Bei einigen von ihnen verzeichneten die Wahlkommissionen den Sieg von Tichanowskaja, oft mit einem großen Abstand. Später erschienen im Internet Dutzende Fotos von bestätigenden Protokollen. Diese Informationen wurden mit Beifallsrufen und Dankesworten an die Wahlkommissionen begrüßt.
Das Hauptereignis des Tages waren Protestaktionen in allen Regionen von Belarus. Am Abend kam Sondertechnik in Minsk an. Auf den Straßen, die in die Stadt führten, gab es Militärpatrouillen. Einsatzkräfte blockierten die zentralen Straßen, in einigen Bereichen gab es keine Verbindungen über öffentlichen Verkehr. Bestimmte U-Bahnstationen wurden geschlossen.
Gegen 21.00 Uhr versammelten sich Tausende von Menschen auf einer langen Strecke von Nemiga bis zur Stele „Heldenstadt Minsk“ und weiter durch den Prospekt der Sieger sowie den Mascherow-Prospekt — bis zum Supermarkt Bigzz. Dort kam es zu den wichtigsten Ereignissen: Menschen gingen auf die Fahrbahn hinaus, Einsatzkräfte drängten sie aus dem Nemiga-Gebiet hinaus. Neben der Stele und dem Mascherow-Prospekt versuchten die Demonstranten, Barrikaden aus Mülleimern und Metallzäunen zu bauen. Die Einsatzkräfte verwendeten Wasserwerfer, Gummigeschosse, Tränengas und Blendgranaten. Es gab viele Verletzte, darunter auch Schwerverletzte: Ein Miliztransporter fuhr in die Menschenmenge rein – einige Menschen wurden verletzt. Es gab einige Fälle der Zusammenstöße mit der Miliz-Sondereinheit, die mit Knüppeln antwortete. Die Menschen, welche vom Prospekt der Sieger vertrieben worden waren, bewegten sich in Richtung Siegesplatz, wo sie ebenfalls von Einsatzkräften empfangen und inhaftiert wurden. Die Unruhen wurden erst spät in der Nacht niedergeschlagen.
Proteste fanden auch in allen regionalen Zentren statt, die schwersten Zusammenstöße mit Einsatzkräften gab es in Brest. Viele Menschen gingen in Polazk und Nawapolazk, Babrujsk, Salihorsk, Waukawysk, Baranawitschy, Kobrin, Schodsina, Maladsetschna auf die Straßen. Am nächsten Tag teilte das Innenministerium mit, dass die Proteste in 33 Städten des Landes stattgefunden haben. Etwa 3.000 Menschen wurden festgenommen.
10. August
Die vorläufigen Wahlergebnisse wurden vom ZWK erst am nächsten Tag bekannt gegeben: 80,23% für Lukaschenko, 9,9% für Tichanowskaja.
Die Europäische Union verurteilte das Vorgehen der belarusischen Behörden, während Russland und China Lukaschenko zum Wahlsieg gratulierten.
Im Laufe des Tages gab es Informationen über streikende Arbeiter einiger Betriebe: Es kamen Meldungen über Arbeitseinstellungen in einer oder mehreren Werkhallen des Belarusischen Eisenwerks in Schlobin, aber der Betriebsleiter bestritt die Informationen über den Streik.
Die Proteste am Montagabend waren genauso zahlreich wie die am 9. August. In der Hauptstadt war wie am vorigen Tag das Stadtzentrum geschlossen, sechs U-Bahn-Stationen waren außer Betrieb. Die Menschen versammelten sich wieder in der Nähe von der U-Bahn-Station „Nemiga“, aber die wichtigsten Ereignisse spielten sich in der Nähe von der U-Bahn-Station „Puschkinskaja“ und des Kaufhauses „Riga“ ab: Wieder Tausende von Menschen, die gesperrte Fahrbahn, Barrikaden, aber auch harte Verhaftungen, Blendgranaten, Gummigeschosse und Wasserwerfer. Autofahrer blockierten mit ihren Autos die Fahrbahn und verhinderten die Durchfahrt der Spezialausrüstung. Am nächsten Tag warnte der Ermittlungsausschuss, dass die Autos solcher Fahrer als Tatwerkzeuge eingezogen würden.
In der Nähe von „Puschkinskaja“ ist an diesem Abend ein Demonstrant gestorben: Nach der Mitteilung des Innenministeriums versuchte er einen handgemachten Sprengsatz in Richtung der Miliz-Sondereinheit zu werfen, welcher in seinen Händen explodierte; es gab aber Zeugen, die diese Version widerlegten.
Das Gesundheitsministerium teilte mit, dass an den beiden Protesttagen rund 200 Menschen mit Verletzungen in Krankenhäuser gebracht wurden und mehrere von ihnen operiert werden mussten.
Proteste gab es in Hrodna, Wizebsk, Mahiljou, Nawapolazk, Baranawitschy, Maladsetschna, Nawagrudak und Schodsina. In Brest und Homel kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Demonstranten und die Miliz-Sondereinheit.
Die Probleme mit der Internetverbindung hielten den ganzen Tag an und beeinträchtigten die Arbeit vieler Dienste, Institutionen und Unternehmen des IT-Sektors, was dem Land millionenschwere Verluste zufügte. Der Gründer von „Telegram“ Pawel Durow sagte, dass das Unternehmen Anti-Zensur-Werkzeuge speziell für die Situation in Belarus eingesetzt habe.
Das Innenministerium berichtete über die Festnahme von weiteren 2.000 Personen und teilte mit, dass 21 Vertreter der Sicherheitskräfte verletzt worden seien.
11. August
Am Morgen ist die Abreise von Tichanowskaja nach Litauen bekannt geworden, diese Information wurde vom litauischen Außenminister bestätigt. Es stellte sich heraus, dass die Abreise in der Nacht stattfand, nachdem Tichanowskaja am Montag einige Stunden im Gebäude vom ZWK verbracht hatte. Es ist nicht bekannt, wer und worüber dort mit ihr gesprochen hat, aber im Laufe des Tages wurde ihre Videobotschaft veröffentlicht, in der Tichanowskaja Belarusen aufruft, auf die Straßen nicht zu gehen und keine Gesetze zu verletzen – der Text wurde vom Blatt abgelesen. Maria Kalesnikawa, die einzige von der „Drei“, die in Belarus geblieben ist, sagte, dass Tichanowskaja dieses Video unter Druck aufnahm.
Es gab Berichte über mögliche Streiks der Arbeiter des elektrotechnischen Koslow-Werks, „Integral“, „Belenergosbit” – man rief wieder zum Streik auf.
Die Proteste am Dienstag waren nicht so zahlreich, aber die Streitkräfte gingen viel härter vor, unter anderem auch gegenüber Journalisten: In Brest wurde Stanislaw Korschunow, Reporter von TUT.BY, verhaftet, in Minsk konfiszierte die Miliz-Sondereinheit die Speicherkarten mit Fotos und riss die Akkreditierungszeichen bei Journalisten ab. Um 1:00 Uhr nachts wurde der größte Teil von Demonstranten aufgelöst oder festgenommen. Die Demonstranten wurden in inneren Höfen gejagt, die Miliz-Sondereinheit brach die Türen von Hauseingängen auf, wo sich die Demonstranten vor der Polizei versteckten. Es kamen Meldungen, dass die Einsatzkräfte mit Gummikugeln in die Fenster schossen, aus denen die Zeugen der Verhaftungen sie beschimpften.
Heute Morgen teilte das Innenministerium mit, dass gestern mehr als 1.000 Menschen verhaftet worden seien. Laut Gesundheitsministerium ersuchten 51 Personen medizinische Hilfe, von denen 14 zur Polizei und inneren Streitkräften gehörten.
Ergebnisse in Zahlen nach drei Tagen der Proteste – mehr als 6.000 Verhaftete, 250 Verletzte und 1 Todesopfer.