Cyber-Partisanen erzählen, wie sie den Einsatzkräften die Masken herunterreißen
3. Oktober 2020 | Marya Mjalechina, KYKY
In einem Exklusivinterview mit Kyky.org erzählen Cyber-Partisanen über die Arbeit an einem Gesichtserkennungssystem, das Gesichter der Strafverfolgungsbeamten unter den Sturmhauben erkennen könne, darüber, warum man keine Angst vor Angriffen von Anti-Cyber-Partisanen zu haben braucht und wie sich Belarus intern in Nordkorea und die Vereinigten Staaten gespalten hat.
Bekanntheit erlangten die Cyber-Partisanen in Belarus Anfang September 2020 im Zusammenhang mit dem Hacker-Angriff auf die Website der Präsidialverwaltung. Damals ersetzten sie den Inhalt der Startseite mit der weiß-rot-weißen Flagge [der Opposition] und einem Foto des Leiters der Präsidialverwaltung Wiktar Scheiman mit einem Weihnachtsstern auf dem Kopf, ganz im Stil von Verka Serduchka (ukrainische Komikerin und Popsängerin, Anm.) Die Streiche gingen weiter, und die Partisanen hackten die Website des Innenministeriums, wo Alexander Lukaschenko und Innenminister Jury Karajew für vermisst erklärt wurden. Das war erst der Anfang.
Als nächstes gaben in diesem ungleichen Kampf die Websites mehrerer Institutionen den Geist auf: die der Industrie- und Handelskammer, des öffentlichen Beschaffungswesens, des Ministeriums für Steuern und Abgaben und die des Zahlungssystems ERIP. Besondere Aufmerksamkeit widmeten die Hacker der staatlichen Propaganda. Die Online-Übertragungen der Sender Belarus 1, Belarus 2, Belarus 3, Belarus 4, Belarus 5 und ONT wurden durch Szenen unterbrochen, die zeigten, wie am 9.-11. August Demonstranten von der Sondereinheit OMON zusammengeschlagen wurden. Dann stellten die unsichtbaren Kämpfer Datenbanken des Innenministeriums, der OMON und des KGB ins Netz.
Ende September erschien in Belarus eine ganze „digitale IT-Front“ mit einem eigenen Manifest. Es ist ein Aufruf zur Vereinigung von Hackern und Entwicklern für Remote-Angriffe auf administrative Ressourcen in Belarus, die der Gesellschaft schaden. Die Cyber-Partisanen sind so populär geworden, dass sie heute sogar Nachahmer haben.
KYKY: In einem Ihrer Interviews sagten Sie, Ihr Ziel sei es, „die Gerechtigkeit wiederherzustellen und Druck auf Lukaschenkos Regime auszuüben“. Aber was bringt es außer Trolling, wenn staatliche Websites für ein paar Stunden lahmgelegt werden?
C: Damit zeigen wir unsere Stärke. Betrachten Sie es als eine militärische Übung. Wir wollen zeigen, dass wir in unserem Revier, auch wenn es virtuell ist, das Sagen haben. Außerdem beziehen wir damit Position: Wir stehen auf der Seite des Volkes. Wir tun das, was wir am besten können. Trolling ist nur ein Nebeneffekt. Die wichtigste Botschaft ist, dass der Staatsapparat gegen uns genauso machtlos ist, wie das belarusische Volk gegen OMON.
KYKY: Welche Website wird als nächstes gehackt?
C: In Systeme einzubrechen ist ein kreativer Prozess. Stillstand ist der Tod, wir arbeiten an Dutzenden staatlicher Systeme. Unsere Pläne bleiben geheim.
KYKY: Haben Sie keine Angst dass Sie für Ihr Handeln zur Verantwortung gezogen werden? Denn es liegt auf der Hand, dass Ihnen strafrechtliche Verfolgung droht.
C: Wir sind, wie das restliche Volk, unseren Überzeugungen treu. Wir können aufgrund unserer Überzeugung nicht untätig bleiben und werden den Protest ungeachtet möglicher strafrechtlicher Verfolgung auf jede erdenkliche Weise unterstützen
KYKY: Haben Sie keine Angst davor, enttarnt zu werden?
C: Die Struktur unserer Organisation ist so angelegt, dass selbst wenn einzelne Menschen enttarnt werden, es sich nur um die Spitze des Eisbergs handeln wird. Wir sind dezentralisiert und autonom.
KYKY: Haben Sie Drohungen erhalten, haben Sie das Gefühl, dass jemand Ihnen auf der Spur ist?
C: Nein, nur indirekte und öffentliche Warnungen.
Hier passt ein Vergleich mit Nordkorea und den Vereinigten Staaten. Wir sind die USA, und Unterstützer des Regimes sind Nordkorea, das stolz darauf ist, dass seine Steinschleudern die schnellsten sind.
Über die Aussage des Innenministeriums, dass seine Mitarbeiter alle Telegram-Chats infiltriert hätten, oder den Umstand, dass das Innenministerium Spam-SMS verschickt, kann man nur lachen.
KYKY: Sie waren die ersten, die behaupteten, das Video über das Programm, das die Einsatzkräfte enttarnt, sei eine Fälschung. Wozu? Diese Methode dient genau dem Zweck, auf die Einsatzkräfte Druck auszuüben, auch wenn es sich um ein Fake handelt.
C: Wir zogen die Echtheit dieses Video in Zweifel, weil das, was wir sahen, stark wie eine Montage wirkte. Aber zum gegenwärtigen Zeitpunkt erkennen wir an, dass die Technologie existiert. Und wir arbeiten selbst an der Weiterentwicklung dieses Systems.
KYKY: Warum haben Sie die Daten des Innenministeriums aus den Jahren 2017-2019 veröffentlicht? Viele Personen aus diesen Listen sind nicht mehr dabei. Sie haben womöglich Unschuldige in Mitleidenschaft gezogen.
C: Wir sind uns der politischen Tragweite solcher Enthüllungen bewusst und versuchen, Informationen möglichst gezielt herauszugeben und überprüfen sie gründlich. Wir fordern die Strafverfolgungsbehörden auf, sich an das Gesetz zu halten. Man darf kriminellen Befehlen nicht gehorchen. Und wenn sie sich daran erinnern würden, dass sie ihr Volk und nicht die Kriminellen an der Macht schützen müssen, dann gäbe es keinen Bedarf für solche Veröffentlichungen.
KYKY: Sie haben die Websites der Fernsehsender BT und ONT gehackt. Ist es technisch möglich, in das Rundfunknetz einzudringen? Oder geht das aus technischen Gründen prinzipiell nicht?
C: In unseren Kreisen ist man fest davon überzeugt, dass es keine Systeme gibt, die nicht gehackt werden können. Es stellt sich nur die Frage nach dem Preis des Einbruchs.
KYKY: Ist es möglich, persönliche Accounts hoher Beamter in sozialen Netzwerken zu hacken? Oder das es unrealistisch?
C: Wie bereits gesagt, möglich ist alles. Aber wir sehen darin keinen praktischen Sinn – diese Informationen sind nicht von Interesse. Derzeit haben wir andere Prioritäten.
KYKY: Vor ein paar Tagen war auf einmal von den Anti-Cyber-Partisanen die Rede. Sie hatten die KYKY-Website gehackt, woraufhin ein Porträt von Lukaschenko und eine Audiodatei auf der Hauptseite erschienen. Die veränderte Stimme verlas, dass die Gesetzeshüter keine Angst vor „Cyber-Partisanen“ hätten. Wie werden Sie gegen diese neue IT-Gruppe vorgehen? Werden Sie die Firmen und Websites, die sie angreifen, schützen?
C: Wir haben Informationen darüber, wer dahinter steckt. Und es gibt keinen Grund, sich darüber Sorgen zu machen. Betrachten Sie das Hacken von KYKY.org als kostenlose Werbung.
KYKY: Wie bewerten Sie deren professionelles Niveau? Können sie mit Ihnen konkurrieren?
C: Es macht keinen Sinn, diese Frage im Detail zu beantworten. Wir sind auf der gleichen Seite, niemand wird mit uns konkurrieren.
KYKY: Sie werden oft dafür kritisiert, dass Sie mehr Interviews geben, als dass Sie Hackerangriffe organisieren. Was können Sie dazu sagen?
C: Wir sind niemandem etwas schuldig. Angriffe sind ohne Planung unmöglich und nehmen viel Zeit in Anspruch. Interviews sind wichtig, um uns in der Gesellschaft zu positionieren und neue Gleichgesinnte zu ermutigen, sich unserer Bewegung anzuschließen. Uns geht es nicht um den Hype, sondern um den Sieg.
KYKY: Sie haben jetzt die Möglichkeit, sich öffentlich an die Behörden, Strafverfolgungsbeamten und persönlich an Lukaschenko zu wenden. Was würden Sie ihnen sagen?
C: Wir haben alles in unserem Manifest formuliert.
KYKY: Wenn das alles vorbei ist und das Regime gestürzt ist, werden Sie dann Ihre Identität preisgeben?
C: Wir werden die Menschen bleiben, die Sie täglich auf der Straße, in den öffentlichen Verkehrsmitteln, im Geschäft oder im Stadion sehen. Sie werden nie die Namen derer erfahren, die ihre Freiheit für den gemeinsamen Sieg riskiert haben. Es besteht keine Notwendigkeit, die Bewegung der Cyber-Partisanen mit konkreten Personen in Verbindung zu bringen.