Ich habe Belarusen vor Corona geschützt, aber dann lag ich im Gefangenentransporter in einer Blutlache
5. Oktober 2020 | Maryja Mjalechina, KYKY
Der Gründer der Initiative BYCOVID-19, Andrej Tkatschou, Mitglied des Koordinationsrates, wurde in den ersten Tagen der Proteste nach den Wahlen festgenommen. Im Gefangenentransporter wurde Andrej bis zur Bewusstlosigkeit geprügelt. Drei Wochen nach seiner Freilassung war er immer noch nicht in der Lage, seinen rechten Arm auf mehr als Schulterhöhe anzuheben. Zwei Finger sind taub, ebenso wie (teilweise) die Haut an einem der Kniegelenke. Andrej ist Facharzt für Rehabilitation, darum sagt er, dass er die Genesung schon schaffen wird. Aber nun droht ihm in seinem Heimatland Strafverfolgung, weshalb Andrej Belarus unfreiwillig verlassen hat. Hier seine Geschichte.
Teil 1. Die Geburt der Solidarität
Jegliche zivilgesellschaftliche Aktivität in Belarus wird [vom Staat] weder begrüßt noch gefördert, daher beruht alles, was ich getan habe und tue, rein auf Enthusiasmus. So bin ich nun mal: Ich kann nicht untätig bleiben, wenn ein Ereignis mich emotionale stark berührt. Die Intiative BYCOVID-19 begann, als uns klar wurde, dass der Staat die Folgen der Pandemie ohne Hilfe von außen nicht stemmen würde. Und wir waren das Bindeglied, das prompt auf diese Bedrohung reagieren konnte, ohne Bürokratie und Verzögerungen. Wie eine Einsatzgruppe, die innerhalb von 24 Stunden alles Nötige besorgen und zum Krankenhaus bringen konnte. Das Gesundheitsministerium und seine Bürokratie hätten dafür Wochen gebraucht.
Natürlich mussten wir mit den staatlichen Behörden zusammenarbeiten, aber die Zeiten waren auch andere. Damals versuchten die Behörden irgendwie mit der Zivilgesellschaft, mit Unternehmern zu im Austausch zu sein. Dann ging die Epidemie zurück, das medizinischem Fachpersonal wurde besser [gegen Corona] geschützt, Versorgungskanäle wurden organisiert. Ende Juni haben wir unsere Arbeit eingestellt. Aber genau diese Geschichte mit COVID-19 wurde zum Prolog der unglaublichen Solidarität der Belarusen, die wir heute erleben.
Schon vor der Wahl habe ich die ganzen Aktionen genau beobachtet. Ich hatte zwei Favoriten – Zepkalo und Babaryka – vernünftige, kluge Menschen. Und mir wurde klar, dass die Dinge in diesem Land anders sein könnten. Dann wurde Viktar Babaryka verhaftet und es ging los mit den Protesten, und Menschenketten. Ich war auch dabei, aber es gelang mir, Verhaftungen zu vermeiden. Später haben sich die drei Wahlkampfstäbe vereinigt, und das war inspirierend.
Und als am Abend des 9. August die vorläufigen Ergebnisse bekannt gegeben wurden, nach denen Lukaschenko 80 Prozent der Stimmen bekommen hatte, war jeder über die absurden gefälschten Zahl empört. Es schien, dass wir gewinnen würden, wenn wir jetzt auf die Straße gehen und unsere Uneinigkeit zeigen. Leider war es nicht so einfach. Das System, das innerhalb der letzten 26 Jahre aufgebaut wurde, setzte wieder einmal einen Unterdrückungsmechanismus in Gang, um die Hoffnungen und Träume der Belarusen auf eine bessere Zukunft unter sich zu begraben.
Am Abend des 9. August begannen die Menschen hinauszugehen und sich in Richtung der Stele [Kriegsdenkmal im Zentrum von Minsk, Anm. des Übersetzers] zu bewegen. Ich war auch dabei. Es war ein friedlicher Protest: eine festliche Stimmung, viele Menschen hatten weiß-rot-weiße Fahnen [der Opposition] dabei. Aber irgendwann, auf dem Weg zur Stele, hörte ich Explosionen von Blendgranaten. Ich spiele Paintball und weiß, dass sie unverwechselbar sind. Aber die Leute liefen trotzdem weiter und stießen auf eine Absperrung der OMON-Einsatztruppe. Niemand versuchte anzugreifen, es gab keine Aggression. Alle skandierten: „Miliz mit dem Volk“, „OMON, lass die Schilde fallen“ und so weiter. Ich stand direkt vor den Schilden, als die gewaltsame Auflösung begann. Wieder explodierten Blendgranaten, es wurde geschossen. Meine Freunde und ich zogen uns zurück, wir verteilten uns in den Höfen. Damals ging es gut aus.
Teil 2. Festnahme und Polizeiwache
Am Morgen des 10. August gab es – dank VPN – Nachrichten über die Verletzten und Verprügelten. Und die Hauptfrage war, ob die Menschen für einen zweiten Protesttag herauskommen würden. In den Jahren 2006 und 2010 fanden die Hauptproteste genau am Wahltag statt. Dann wurden Andersdenkende geprügelt, ins Gefängnis gesteckt und der Protest ebbte ab. Daher gab es wenig Hoffnung. Am Abend verabredete ich mich mit meinem Freund Kim Masur, der ebenfalls Freiwilliger bei BYCOVID-19 war, um durch die Stadt zu fahren, um zu sehen, wie sich die Ereignisse entwickeln würden.
Wir schafften es bis zur Stele. Es gab bereits eine Menge Sicherheitskräfte, Wasserwerfer und Spezialfahrzeuge. Dann bogen wir zu einem der Höfe in der Rakauskaja-Straße ab, wo wir einen gemeinsamen Freund sahen. Wir parkten das Auto und gingen hinaus, um Hallo zu sagen. Es dauerte ein paar Minuten, und dann stiegen wir wieder ins Auto ein, aber die Ausfahrt war durch einen blauen Minibus ohne Kennzeichen versperrt. Die Bereitschaftspolizisten kamen heraus, klopften ans Fenster und forderten uns mit einer Geste, auszusteigen. Sie steckten uns in diesen blauen Minibus, brachten uns zur Stele, und dann packten sie uns in den Gefangenentransporter. Beim Umladen gab’s ein paar Schläge, aber es war nicht kritisch.
Daraufhin wurden wir auf die Polizeiwache des Bezirks Partysanski gebracht. Beim Aussteigen bildeten die OMON-Kräfte einen Korridor und ließen die Gefangenen durch den sogenannten „Bach“ laufen. Einer von ihnen warf einen Mann aus dem Gefangenentransporter, der andere verpasste dem Gefangenen sofort einen Tritt in den Bauch. Der Mann „faltete sich“. Und in dieser Position, „mit dem Gesicht zum Boden, Hände auf dem Rücken“, musste man durch den „Korridor“ unter den Schlägen der Schlagstöcke von beiden Seiten gehen.
Danach mussten wir mit dem Gesicht auf dem Boden, direkt auf den Bürgersteigfliesen knien. Sobald jemand versuchte, den Kopf zu heben oder sich zu bewegen, flog ein Schlagstock direkt auf den Rücken. Wir waren ca. 60 Personen, und ich war einer der letzten, der sich von den Knien erheben durfte. Als sie befahlen aufzustehen, konnte ich nicht. Zum ersten Mal in meinem Leben hat mein eigener Körper nicht auf mich gehört. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zwei Nudeln statt der Beine zu haben, die man weder beugen noch strecken kann. Ich schätze, das war es, was mir einen empfindungslosen Bereich an meinem Knie hinterlassen hat.
Dann wurde ich an meinen Armen in den Keller geschleppt, wo ein Mann in Zivil mit einer Waffe an seiner Seite Befehle gab. Sowohl Einsatzkräfte als auch Polizisten hörten auf ihn. Ich erinnere mich genau an ihn: Wenn ich ihn sehen würde, würde ich ihn sofort wiedererkennen. Er befahl allen, sich wieder hinzuknien, aber als er ging, erlaubten uns die Polizisten, uns aufzurichten. Im Prinzip haben uns die meisten einfachen Polizisten nicht angefasst, sie haben uns mit Mitgefühl und Loyalität behandelt.
Dann folgte eine Inventur der Gegenstände, die wir bei uns hatten: Man wurde einzeln in eine Art Aula gebracht, die sich ebenfalls im Keller befand. Als das Prozedere abgeschlossen war und alle Vorgesetzten gegangen waren, erlaubte einer der Polizisten jedem Festgenommenen, zu seinen persönlichen Sachen zu gehen, sein Telefon einzuschalten und einen Anruf zu tätigen. Mir kam es surreal vor, wie ein Wunder. Da gelang es mir, meinen Anwalt anzurufen und ihm zu sagen, wo ich war. Und im Grunde munterte uns dieser Wachmann auf, wir wurden von ihm wie Menschen behandelt. Man spürte, dass er auf unserer Seite war.
Am Ende der Schicht sagte dieser Polizist: „Mit meinen Ansichten werde ich nicht mehr lange hier sein. Jungs, haltet durch! Wir werden gewinnen!“ Ich würde diesen Mann gerne wieder treffen und ihm die Hand schütteln.
Und ihm durch den Solidaritätsfond helfen, einen neuen Job zu finden.
In dieser Aula der Polizeiwache verbrachten wir die Nacht. Man gab uns Wasser und brachte uns zur Toilette. Doch gegen Morgen kehrte einer der Vorgesetzten von der nächtlichen Protestauflösung zurück. Er stürmte direkt in seiner Ausrüstung und mit seinem Helm ein und fing an, alle zu schlagen. Viele Menschen waren eingeschlafen: manch einer saß, der andere lag. Erst später habe ich erfahren, dass es in der Nacht vom 10. auf den 11. August zu den schwersten Zusammenstößen mit OMON kam.
Sie zwangen uns wieder auf die Knie, die Hände hinter dem Rücken, das Gesicht auf dem Boden. Es hagelte Schläge und übelste Schimpfwörter. Der Offizier schrie: „Bestien, wie könnt ihr es wagen, die Hand gegen die Polizei zu erheben?!“ Als er ging, erlaubten uns die Polizisten, eine bequemere Pose einzunehmen, warnten uns aber, dass wir arm dran sein würden, wenn die OMON-Leute wieder hereinstürmten. Deshalb stand einer der Polizisten Wache an der Tür, wir konnten währenddessen unsere Glieder ein wenig strecken. Wir wussten nicht, was uns erwartete und was in jener Nacht [in der Untersuchungshaftanstalt] in Akrescina geschah, also denke ich, dass wir noch Glück hatten.
Teil 3. Der blutige Weg in die Untersuchungshaftanstalt
Ich haben schon früher Festnahmen und Arrest erlebt, und ich hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was uns erwartete. Ich dachte, man würde uns vor den Richter bringen… 2011 war ich zuletzt bei einer Protestaktion festgenommen worden, und ich war auf die Liste von politisch Unzuverlässigen gesetzt worden. Im Jahr 2014 (das war das Jahr der Eishockey-Weltmeisterschaft) haben sie wahrscheinlich beschlossen, diese Liste durchzuarbeiten. Man beschuldigte mich des Hooliganismus. Man behauptete, dass ich auf der Straße herumgelaufen sei und geflucht habe, mit den Armen um mich geschlagen und den rechtmässigen Aufforderungen der diensthabenden Polizisten nicht nachgekommen sie, die angeblich zufällig vorbeigegangen seien. Obwohl ich nirgendwo hingegangen war, niemanden beschimpft und mich mit niemandem geprügelt hatte. Auch diesmal dachte ich, es würde dem gleichen Muster folgen: Ich würde 15 Tage absitzen, keine große Sache. Aber es kam ganz anders als erwartet.
Am 11. August gegen 11-12 Uhr wurden wir mit unseren persönlichen Gegenständen in den Innenhof des Polizeireviers gebracht. Und mir wurde klar, dass sie im Begriff waren, uns durchzuprügeln. Dort waren bereits zwei Gefangenentransporter eingeparkt und Bereitschaftspolizisten in voller Montur in Sturmhauben und mit Schlagstöcken in der Hand standen daneben.
Mal stellte uns in zwei Reihen entlang der Mauer mit den Händen auf dem Rücken. Kim stand neben mir. Wir fielen sehr auf: die Tätowierungen, bei mir auch noch lange Haare. Für sie ist so ein Mann ein Faschist, der umgebracht werden muss. Und wieder zeigte der Mann in Zivil, den ich zuvor im Keller gesehen hatte, auf uns und sagte: „Diese hier brauchen Spezialbehandlung.“ Sie liefen sofort auf uns zu und begannen, auf uns einzuprügeln.
Dann wurde allen die Hände mit Fesseln zusammengebunden und sie begannen, uns in die Gefangenentransporter zu packen. Und wieder ein Spießrutenlauf von vorhin: Wir wurden wieder durch einen lebenden Korridor von OMON-Männern mit Schlagstöcken gejagt. Im Gefangenentransporter musste man auf Knien über die Menschen kriechen, die bereits in mehreren Schichten dort lagen. Jemand lag auch auf mir, meine Beine waren zugedeckt, so dass die meisten Schläge meinen Rücken und Kopf trafen.
Sie prügelten erbarmungslos auf uns ein. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit. Man schrie uns an, dass wir korrupte Schlampen seien, die das Land zerstören wollten. Die Leute versuchten zu widersprechen, aber je mehr man protestierte oder vor Schmerz schrie, desto härter wurden die Schläge. Ich biss die Zähne zusammen und schwieg. Aber ich hörte, wie erwachsene Männer vor Schmerz wimmerten und stöhnten, einige von ihnen wurden ohnmächtig. Kim wurde ebenfalls schwer verletzt. Sie warfen ihn in die hinterste Ecke des Parkplatzes, und zwei Bereitschaftspolizisten schlugen ihn grün und blau. Und bevor wir gingen, wurden wir „auf dem Kopf“ gezählt: Man wird mit einem Schlagstock geschlagen und muss gleichzeitig die Nummer rufen. Wenn man zu leise ruft, bekommt man einen weiteren Hieb. Im Gefangenentransporter befanden sich 18 Leute.
Dann schlug die Tür zu, und wir fuhren in Begleitung der Verkehrspolizei [ins Gefängnis] nach Schodsina. Wir lagen in Schichten aus Schweiß, Blut, Rotz und jemandes Urin mit dem Gesicht zum Boden. Ich habe versucht, so möglichst zu abstrahieren und sogar zu meditieren, aber es hat nicht sehr gut funktioniert. Sie prügelten uns den ganzen Weg lang. Sie nannten sich selbst das „Reparaturteam“, und sie „reparierten“ Menschen, das heißt, sie wollten uns zur Vernunft bringen.
Wir wurden nicht nur geschlagen, die Bereitschaftspolizisten trampelten auch auf uns herum. Irgendwann trat mir einer von ihnen auf den Hals und fing an zu pressen. Schließlich fiel ich in Ohnmacht. Ich weiß nicht, wie lange ich bewusstlos war. Sie gossen mir kaltes Wasser über den Kopf, und ich kam zur Besinnung.
Danach haben sie aufgehört, uns zu schlagen. Entweder hatten sie Angst zu weit zu gehen, oder sie dachten, sie hätten ihr Ziel erreicht, denn ich war nicht der Einzige, der in Ohnmacht gefallen war. Sie haben so etwas wie einen Schalter im Kopf mit zwei Modi: „Gewalt an“ und „Gewalt aus“. Und in diesem Moment ging es in die „Aus“-Position. Sie begannen, die Plastikfesseln zu lockern, weil unsere Hände so fest gebunden waren, dass sie blau anliefen. Bei jemandem wurde die Fessel sogar abgeschnitten. Aber das alles tat eine Person, allen anderen war es egal. Soviel zur Frage, ob sie alle Monster sind. Vielleicht gibt es unter ihnen auch solche, die noch einen Funken Menschlichkeit bewahrt haben.
Teil 4. Schodsina und der „nette Polizist“
Nach einer Weile fingen die Leute im Gefangenentransporter an, sich zu beschweren, dass sie ihre Beine oder Arme nicht mehr spürten, manchen wurde schlecht. Und einige durften sich sogar hinsetzen, wir bekamen ein paar Flaschen Wasser und reichten sie herum – es war gerade mal ein Schluck pro Person. Und dann fingen sie an, uns menschlich zu behandeln. Ganz so, als ob vorher nichts geschehen sei. Ich verstehe nicht: Wie ist es möglich, so schnell aus einem Zustand in dem man einen Menschen fast umbringt, zu der Situation umzuschalten auf ein fast schon freundschaftliches Gespräch?
Die Jungs im Gefangenentransporter fingen an, ihre Geschichten zu erzählen: als was sie arbeiten, wo sie festgenommen wurden und wofür. Wenn jemand sagte, er sei aus Versehen festgenommen worden, hieß es: „Du hast einfach Pech gehabt.“ Es war offensichtlich, dass die Polizisten ziemlich gehirngewaschen waren. Sie waren hundert Prozent sicher, dass wir alle bezahlte Feinde waren, deren Aufgabe es war, das Land zu zerstören und es an den Westen zu verkaufen. Sie sahen sich als Retter von Belarus, für sie war es eine ehrenvolle Mission. Es war zwecklos, auf sie einzureden. Irgendwann zog einer von ihnen seine Sturmhaube aus und zündete sich eine Zigarette an. Wir alle sahen sein Gesicht, er hatte keine Angst davor. Ein Typ aus dem Gefangenentransporter erkannte ihn: sie trainierten im selben Club beim selben Trainer. Und dieser Typ sagte: „Ich sch…se sowohl auf Tichanowskaja als auch auf Lukaschenko. Solange ich bezahlt werde, werde ich tun, was ich tue.“
Dann kamen wir nach Schodsina und warteten, bis wir an der Reihe waren, denn es gab eine Menge Gefangenentransporter. Währenddessen hat man versucht, uns Angst einzujagen: „Macht euch auf was gefasst. Sie werden euch hier die Hölle heiß machen.“ Aber die Wachen nahmen alle ruhig auf. Zum ersten Mal gingen wir ganz normal, nicht mit dem Gesicht zum Boden und den Händen nach oben. Es stimmt, es wurden viele Leute gebracht. Sie hatten Schwierigkeiten, mit einer solchen Flut [von Gefangenen] zurechtzukommen. Also wurden wir zuerst auf den Innenhof gebracht, dort blieben wir mehrere Stunden. Aber wir wurden nicht geschlagen, gedemütigt und bekamen einen Eimer für die Toilette.
Dort, an der Mauer dieses Hofes, wurde ich fast wieder ohnmächtig – ich begann mich zu übergeben und mir wurde schwindelig. Das passiert bei Schädel-Hirn-Traumata und Gehirnerschütterungen. Einer der Wachen schimpfte sogar auf die OMON-Polizisten und nannte sie „verfluchte Dreckskerle“, als er den Zustand sah, in dem sie die Menschen brachten.
Als nächstes wurden wir, 30 Personen, in eine Zelle für zehn Personen gesteckt. Kim und ich befanden uns in derselben Zelle, in der Sascha Wassiljewitsch [Mitbegründer von KYKY, Inhaber der Werbeagentur Vondel, politischer Gefangener, Anm. von KYKY] vor uns war; wir verpassten uns nur um eine halbe Stunde. Natürlich war es eng, sodass einige Leute auf dem Boden schlafen mussten. Aber Kim und ich schafften es, die „Palmenpritsche“ zu besetzen – die zweite Ebene, wo wir uns im Kopf an Fuß hinlegten.
Im Großen und Ganzen wurden wir in der Untersuchungshaft gut behandelt: Wir wurden nicht geschlagen, es gab etwas zu essen, mir wurden sogar Schmerzmitteln und Antiemetika gespritzt, eine Packung Ibuprofen gab es dazu. Im Vergleich zu Akrescina fühlte es sich wie ein Kurort an.
Teil 5. Freilassung
Am 14. August, nach drei Tagen Haft, wurden wir plötzlich freigelassen. Wir wussten, dass Gerichtsverhandlungen liefen, Urteile gab’s wie am Fließband. Ein paar Leute aus unserer Zelle waren bereits verurteilt worden. Viele Menschen, mich eingeschlossen, kamen nicht mehr vor den Richter. Nach dem Gesetz muss eine Person nach drei Tagen freigelassen werden, wenn es kein Urteil gibt. Genau das passierte.
Wir wurden in kleinen Gruppen von drei bis fünf Personen freigelassen. Als ich aus dem Tor der Untersuchungshaft ging, war ich verwirrt. Erstens, frische Luft. Zweitens, gab es eine Menge Leute, es waren Verwandte und Freiwillige. Als ich durch die Menge ging, war es wie in einem Kriegsfilm. Die Leute hielten Bilder in der Hand und fragten mit Tränen in den Augen, ob ich einen ihrer Verwandten gesehen hätte.
Dann ging ich zu den Freiwilligen, sah einige Freunde und ein Zeltlager. Meine erste Frage lautete: „Ist der Protest abgeblasen?“ Aber man hat mich beruhigt und gesagt, dass der Protest noch viel größer geworden sei.
Am nächsten Tag ging ich zur ärztlichen Untersuchung in das sechste Krankenhaus in Minsk, aber am Ende habe ich keine Anzeige beim Ermittlungsausschuss erstattet. Bei mir wurden ein Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung und ausgedehnte Blutergüsse diagnostiziert, aber das ist nichts im Vergleich zu dem, was ich vor Akrescina sah, wohin ich danach fuhr. Aus dem Tor des Untersuchungsgefängnisses kamen schwerst misshandelte Menschen denen der Schrecken ins Gesicht geschrieben war. Viele flohen sofort, ohne auf Hilfe zu warten. Dann stellte sich heraus, dass sie eingeschüchtert worden waren: Wenn sie irgendetwas sagten, würden ihre Lieben getötet werden.
Teil 6. Wie ich das Land verließ
Am 16. August fand ein weiterer Sonntagsmarsch in Minsk statt. Mein Anwalt verbot mir strengstens, daran teilzunehmen. Erstens könnte ich jederzeit vor Gericht gebracht werden, um offiziell zu einigen Tagen Haft verurteilt zu werden, und zweitens könnte eine erneute Festnahme zu einer strafrechtlichen Verfolgung führen. Ich konnte es jedoch nicht aushalten und beschloss, zumindest mit meinem Auto durch die Stadt zu fahren. Und ich sah eine unglaubliche Anzahl von Menschen. Ich fuhr, auf der Autotür sitzend, hielt eine Fahne über dem Kopf und weinte. Die Belarusen sind so verdammt cool! Und trotz der aktuellen Welle der Gesetzlosigkeit und Gewalt im Lande geht der Kampf weiter, niemand hat die Absicht aufzugeben! Die Formulierung „Das ist nicht mein Bier“ ist nicht mehr aktuell.
Danach schloss ich mich der Freiwilligenbewegung an, begann, regelmäßig zu allen Aktionen und Sonntagsmärschen zu gehen, berichtete den internationalen Medien über die Situation im Land. Und nach einem dieser Märsche, als der Alte [Lukaschenko, Anm. der Übersetzers] mit einem automatischen Gewehr ohne Munition herumlief, riet mir der Anwalt, entweder unterzutauchen oder das Land zu verlassen. Es gab Informationen, dass sie beginnen würden, die Daumenschrauben anzuziehen und auf Blogger und Aktivisten zu jagen. Und diese Informationen kamen aus drei verschiedenen Quellen, einschließlich des Ermittlungssausschusses.
Ich wollte Belarus bis zum letzten Moment nicht verlassen. Zu dieser Zeit arbeitete ich bereits mit dem Solidaritätsfonds zusammen, um Belarussen zu helfen, die von Repressionen betroffen sind… Und hinter Gittern hätte ich niemandem mehr helfen können. Diese Zusammenarbeit begann, als ich dem Koordinationsrat beitrat. Dort engagierte ich mich für die Enttarnung von Menschen, die an Folter beteiligt waren, organisierte die Rehabilitation und Ausreise der Verfolgten, kümmerte mich um die finanzielle Unterstützung der Betroffenen. Die „Staatsmacht“ würde mir das nicht verzeihen.
Als ich dann erfuhr, dass der Strafprozess begonnen hatte, reiste ich in die Ukraine aus. Zum Zusammenpacken und Ausreisen hatte ich nur wenige Stunden. Aber ich hatte auch einen Plan B: im Kofferraum in Richtung Russland (lacht).
Jetzt arbeite ich weiterhin beim Solidaritätsfonds. Meine Zielgruppe sind die Sportler, weil es mir näher liegt, ich habe dort viele Kontakte. Natürlich schwanke ich emotional zwischen „wir werden gewinnen“ und „ich werde nie nach Hause zurückkehren“. Aber ich bin entschlossen. Mein Planungshorizont beträgt zwei bis drei Wochen. Tatsächlich sitze ich auf Koffern, aber es ist bildlich gemeint. Ich habe ja fast nichts mitgenommen.
Heute geht es vor allem darum, die Gewalt zu stoppen, eine ehrliche unabhängige Untersuchung durchzuführen, damit die Kriminellen in Uniform nicht das Gefühl der Straflosigkeit bekommen. Die Behörden verstehen immer noch nicht, dass sie die Büchse der Pandora geöffnet haben. Und es wird für die Behörden schwierig sein, die unkontrollierbare Brutalität der Strafverfolgungsbeamten zu unterdrücken, selbst wenn das Regime jetzt überlebt. Wir werden in einem Land von „Unberührbaren“ leben, die offiziell zu Folter, Misshandlungen und Mord berechtigt sind. Und Gewalt kann gegen jeden und jederzeit angewendet werden – niemand ist vor ihr sicher, weder ehemalige Angehörige von Strafverfolgungsbehörden, noch Ärzte, Journalisten oder Sportler. Das sehen wir auch heute. Jeden Tag erreicht die so genannte Regierung neue Tiefpunkte. Nehmen wir zum Beispiel die Verhaftung der Basketballspielerin Alena Leutschanka, die die gesamte Sportgemeinschaft schockierte.
Aber wir sind froh, dass der Protest nicht erstickt ist. Die Menschen werden weiter auf die Straße gehen, niemand will aufgeben. Die jetzige Selbstorganisation der Zivilgesellschaft ists eine einzigartige Erscheinung. Und Repressionen werden die Empörung nur verstärken. Heute schaut die ganze Welt auf Belarus, es gibt eine unglaubliche Welle der Unterstützung und Solidarität. Es bleibt uns also nichts anderes übrig, als zu gewinnen.