„Still, nach Partisanenart“: wie das Unterstützungssystem für die Protestierenden in Belarus funktioniert

16. September 2020 | Аnna Rynda, Sergej Koslowskij, Anastasija Golubewa, BBC
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Im Verlauf der schon anderthalb Monate anhaltenden Massenproteste in Belarus wurden im Land Dutzende Stiftungen gegründet, um diejenigen zu unterstützen die bei den Protesten zu Schaden gekommen sind oder aufgrund ihrer Überzeugungen ihre Arbeit verloren haben. Das Geld wird von Unternehmen und Privatpersonen aus verschiedenen Ländern gespendet. Wie arbeiten diese Stiftungen, angesichts der Behinderungen durch Regime?

Ende August hatte Polizeimajor Sergej Kurotschkin seine Kündigung eingereicht.

10 Tage zuvor war sein Cousin in Minsk verschwunden. Einige Tage später stellte sich heraus, dass der Mann im Akrescina-Gefängnis war. Als er wieder freikam, hatte er riesengroße Blutergüsse am ganzen Körper und gebrochene Rippen. Er war von der Polizei festgenommen worde, als er – zusammen mit einem Freund – in einem Geschäft in der Schlange stand, sagt Sergej Kurotschkin.

„Mich haben die Umstände des Vorfalls schockiert. Obwohl ich damals noch Polizeibeamter im Dienst war Erfahrung mit Fahndungsaktionen habe und auch gut vernetzt bin, konnte ich meinen Cousin nicht finden“, erinnert sich der ehemalige Polizist.

Am 21. August nam Sergej Kurotschkin eine Videobotschaft an seine Landsleute auf, worin er die Gründe für seine Kündigung erklärt. Am nächsten Tag schrieb er die Kündigung und erschien seitdem nicht mehr zur Arbeit.

„Der Sicherheitsapparat ist de facto zum Instrument in den Händen eines einzigen Menschen geworden“, erläutert er seiner Entscheidung in dem Gespräch mit BBC.

Sergej sagt, es sei pures Glück gewesen, dass in seiner Dienststelle nach dem 9. August keine verbrecherischen Befehle ergangen seien.

„Aber ich kann mir nicht sicher sein, dass solch ein Befehl nicht heute oder morgen kommt“, fügt er hinzu.

Sergej Kurotschkin war über 20 Jahre im Polizeidienst. Jetzt, so sagt er, will er sich eine „etwas friedlichere Beschäftigung“ suchen.

Offiziell wurde Sergej 10 Tage nach seiner Kündigung „aufgrund unentschuldigten Fernbleibens vom Arbeitsplatz“ entlassen. Jetzt muss er dem Staat über 6.000 Rubel (über 2.300 US Dollar) zahlen.

Wenn belarusische Polizisten ihren Arbeitsvertrag vor Vertragsende kündigen, müssen sie dem Staat eine Vertragsstrafe zahlen. Die Absolventen der Akademie des Innenministeriums müssen fünf Jahre bei der Polizei arbeiten oder dem Staat die Ausbildungskosten erstatten.

Sergej hat Familie, Kinder und Bankkredite. Seine Ehefrau unterstützt seine Entscheidung, aber auch bei ihr ergab sich, dass sie kündigen musste.

Nach der Kündigung ist Sergej dem Rat seiner Freunde gefolgt und hat sich an mehrere Stiftungen gewandt, die Menschen wie ihn unterstützen. Als erste antwortete ihm die Solidaritätsstiftung (BYSOL). Diese Stiftung unterstützt Menschen, die ihre Arbeit verloren haben, weil sie mit den Handlungen des Regimes nicht einverstanden sind. Die Stiftung gewährte Sergej eine einmalige Unterstützung mit dem Standardbetrag von 1.500€.

Sergej muss seine Vertragsstrafe an den Staat immer noch zahlen. Die Solidaritätsstiftung sagt, dass momentan Modelle für solche Zahlungen für ehemalige Polizisten und Einsatzkräfte entwickelt werden.

Der russische Dienst der BBC Büro ist dem nachgegangen, wie in Belarus das Unterstützungssystem für Menschen die bei den Protesten zu Schaden gekommen sind oder aufgrund ihrer politischen Haltung den Job verloren haben funktioniert.

„Ein Spendentsunami“

Weder Menschen denen geholfen wurde noch die Stiftungen selbst verraten, wie die Hilfe verteilt wird. Das ist eine Vorsichtsmaßnahme, denn die Stiftungsmitarbeiter nehmen an, dass die Machthabenden die Kanäle für das Geldtransfer an die Betroffenen schließen werden, sobald sie von diesen Kenntnis erhalten.

Diese Befürchtungen sind nicht unbegründet, wie die Geschichte des belarusischen Unternehmers Mikita Mikado zeigt. Am 13. August wandte sich der in San Francisco lebende CEO der Firma PandaDoc an belarusische Einsatzkräfte und rief sie dazu auf, „auf die Seite des Guten zu wechseln“ und sich um finanzielle Unterstützung an ihn zu wenden.

Am 2. September wurde das Minsker Büro von PandaDoc von den Mitarbeitern der Behörde für finanzielle Ermittlungen der staatlichen Kontrollbehörde von Belarus durchsucht. Vier Topmanager des Unternehmens wurden verhaftet, gegen sie wurden Strafverfahren eingeleitet. Später fror die Regierung die Bankkonten von PandaDoc in Belarus ein, weswegen das Unternehmen Gehälter seiner 250 Mitarbeiter nicht auszahlen kann, genauso wenig wie ihre Sozialabgaben und Steuern.

Mitte September sah Mikita Mikado sich gezwungen, sein Hilfsprojekt für ehemalige Sicherheitskräfte namens „Protect Belarus“ zu schließen. Er rief alle auf, sich an andere ähnliche Inititativen zu wenden.

Mikado war auch an der Gründung der Stiftung BYSOL Stiftung beteiligt, aber diese Stiftung war nicht in erster Linie ein Project des Unternehmers. BYSOL ist weiterhin aktiv, genauso wie viele andere Stiftungen. Sie alle unterstützen Belarusen, die für ihre politischen Ansichten in irgendeiner Form verfolgt oder benachteiligt wurden.

Mikado hat aus seinem eigenen Kapital gespendet, die genauen Summen behält er für sich. Genauso wie er spenden Tausende anderer Menschen an die Stiftungen. „Es ist keine Spendenwelle, es ist ein Spendentsunami“, sagte Mikado Mitte August der BBC.

Angehörige empfangen die Freigelassenen aus dem Untersuchungsgefängnis Akrescina in Minsk.
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Mitarbeiter anderer Stiftungen, die weiterhin aktiv sind, sprechen ebenfalls von einem erheblichen Spendenumfang.

Niemals in der Geschichte des unabhängigen Belarus gab es ein so großes Spendenaufkommen und eine so große Zahl von Spendern, sagt der Rechtsanwalt Aleh Woltschek im Gespräch mit der BBC. Aleh ist seit 1998 als Menschenrechtsverteidiger aktiv. „Dieses Phänomen ist völlig neu. So etwas gab es früher nie“, sagt er.

Die Gründerin und Leiterin der Plattform „Imena“ (auf Deutsch „Die Namen“) Jekaterina Sinjuk sagt, dass innerhalb weniger Tagen so viel Geld für die Opfer der Gewalt gegen die friedlichen Protesten gesammelt wurde, wie „Imena“ normalerweise für verschiedene wohltätige Projekte innerhalb eines Jahres einnimmt.

„Die Spendenkampagne dauerte wirklich nur ein paar Tage, und dann haben wir sie beendet. Wir haben über eine Million belarusischer Rubel erhalten (über 320.000 Euro). Dieses Geld ist fürs erste mehr als genug [zur Unterstützung der Betroffenen]“, sagt Jekaterina Sinjuk.

Die Stiftung By_help, die zusammen mit der Stiftung BYSOL Geld für die Abzahlung von Geldstrafen und Unterstützung der Festgenommenen aufgetrieben hat, kam wenige Wochen nach den Wahlen auf 5 Millionen US-Dollar.

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Jetzt können Belarusen, die während der Phase der politischen Instabilität in irgendeiner Form in Zeiten zu Schaden gekommen sind, auf Unterstützung durch zahlreiche Intiativen und Stiftungen rechnen. Es gibt gesonderte Hilfsstiftungen für Sportler, Journalisten oder Mitglieder der Wahlkommissionen, die für ihre Ansichten Verfolgung erlitten haben. Andere kümmern sich um die Menschen, die schwere körperliche Verletzungen erlitten haben.

Außerdem gibt es seit dem 14. August das Kontaktzentrum Probono.by: wenn jemand Hilfe sucht, und nicht weiß, wohin er sich wenden kann, wird ihm hier von Freiwilligen geholfen. Probono.by hat mehr als 100 Freiwillige. 60 Freiwillige arbeiten im Callcenter, circa 50 weitere kümmern sich um das Prozessmanagement vor Ort.

Über Probono.by bieten auch Juristen und Psychologen auf ehrenamtlicher Basis Beratungsdienste an.

Im Schnitt wenden sich 100 Menschen pro Tag über die Hotline. An Wochenenden sind es immer deutlich mehr. Das liegt an neuen Festnahmen bei Protestaktionen, erzählt die Koordinatorin von Probono.by, Jana Hantscharowa. Sie versichert, dass die Initiative vollständig auf ehrenamtlicher Basis arbeitet.

„Es ist wichtig, dass die Menschen die Unterstützung anderer Belarusen spüren, die wissen: Sollte mir etwas zustoßen, hilft mir die Gesellschaft. Der Staat ist nicht das einzige Subjekt, das finanzielle Hilfe leisten kann“, sagt der ehrenamtliche Koordinator der Solidaritätsstiftung BYSOL, der Menschenrechtsverteidiger Andrej Strishak.

Wie bekommt man Hilfe?

„Früher gab es so etwas nie, denn jeder dachte, er sei auf sich allein gestellt. Und plötzlich stellt sich heraus, dass wir sehr viele sind und dass es unglaublich viele gibt, die uns unterstützen“, sagt der Journalist Pjotr (der Name ist auf seinen Wunsch geändert, da er neue Schwierigkeiten auf seiner Arbeit befürchtet).

Pjotr war auch einer von denen, die die Hilfe der Wohltätigkeitsorganisationen in Anspruch genommen haben. Vor wenigen Wochen verlor er aufgrund seiner politischen Ansichten seine Arbeit, und zwar innerhalb weniger Stunden.

Nach der Kündigung wandte sich Pjotr an mehrere Projekte, unter anderem BYSOL. „Ich habe einen Antrag online ausgefüllt, ein Video aufgenommen in dem ich über meine Lage erzählte, und mir wurde in der Tat nach ein paar Rückfragen und Prüfung der Unterlagen erstaunlich schnell geholfen“, erzählt er.

Dabei antworteten gleich mehrere Initiativen auf seine Anfrage und versuchten, nach Kräften zu helfen.

„So etwas ist sehr viel wert, und nicht nur des Geldes wegen. Du stellst einen Antrag und buchstäblich am nächsten Tag zeigt sich, dass du nicht alleine bist. Dass Menschen einfach so helfen und Geld spenden und Dir einfach so Arbeit anbieten“, erzählt Pjotr.

Im August und Anfang September sind viele Arbeiter zu den Protestaktionen gegangen. Bergarbeiter Kundgebung in Salihorsk.
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BYSOL hat Pjotr drei Monatsgehälter gezahlt (den Standardbetrag von insgesamt 1.500€). In der Regel zahlt die Stiftung drei durchschnittliche Monatsgehälter. „Wir haben als Berechnunsgrundlage ein Durchschnittsgehalt von 500€ angenommen, von dem hat Lukaschenko stets gesprochen hat aber das die meisten Menschen natürlich nicht haben“, erzählt Koordinator Andrej Strishak in seinem Gespräch mit der BBC.

Außerdem hat man Pjotr Unterstützung bei der Jobsuche und falls nötig auch bei einer Umschulung angeboten.

„Wenn jemand sich zum Programmierer umschulen lassen möchte, braucht man dafür circa drei Monate – genau für dieses Zeit sollte das Geld dann reichen“, sagt der Journalist. Pjotr schließt für sich die Option einer beruflichen Neuorientierung im IT-Sektor bei der aktuellen Situation mit der belarusischen Presse nicht aus.

„Es stehen nicht so viele Optionen zur Auswahl. Falls es Nachfrage im IT-Sektor gibt, gehe ich in IT. Wenn bei der Stadtreinigung etwas frei ist, dann werde ich halt die Straßen sauber machen“, sagt Pjotr.

Um die Hilfe zu bekommen reichte es für Pjotr aus, seine Kündigung und seine Gehaltsabrechnung aus der hervorgeht wie lange er bei dem Arbeitgeber beschäftigt war vorzulegen sowie die Umstände der Kündigung zu schildern.

Wer bei BYSOL Hilfe bekommen will, muss normalerweise die Kündigungsunterlagen, sowie falls vorhanden Presseberichte und falls eine medizinische Behandlung erfolgte, den ärztlichen Befund oder den Befund aus dem Krankenhaus vorlegen.

Ebenso werden die Antragsteller gebeten, sich zu ihrer politischen Haltung zu äußern und ggf. eine Videoaufnahme zu machen, jedoch ist deren Veröffentlichung keine Voraussetzung für Hilfe.

Nach der Bearbeitung und Genehmigung des Antrages erhalten die arbeitslos gewordenen Hilfesuchenden eine Standardauszahlung von 1.500€.

Den gleichen Betrag bekommen Antragsteller, die ihre Arbeit selbst aus Protest kündigen wollen. In der Regel sind dies Sicherheitskräfte Staatsbeamte, die bei vorzeitiger Kündigung eine Vertragsstrafe an den Staat zahlen müssen.

Manche Beamten sowie Mitarbeiter des Militärs haben ihre Arbeit aus Protest gekündigt.
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„Bei der Zahlung von Vertragsstrafen, werden wir aller Voraussicht nach auch zukünftig aushelfen. Jedoch gibt es auch größere Zahlungen: Von Menschen einen speziellen Studiengang im Bereich des Sicherheitsapparates belegt und ihre Ausbildungskosten noch nicht abgearbeitet haben. Falls diese vorzeitig kündigen kommt eine große Geldforderung auf sie zu. Wir der Meinung, dass es nicht nötig ist, diese Summen an den Staat nicht zurückzahlen muss, denn eine neue Regierung wird diese Sklavenhalterbedingung annullieren“, sagt Andrej Strishak.

Auch gehen Gelder von BYSOL direkt an Streikkomitees, die wiederum die Zahlungen an die streikenden Arbeiter ihrer Betriebe organisieren.

„Die Streik Komitees informieren uns über die Zahl der Streikenden, das Durchschnittsgehalt, welches sie dadurch verlieren – das ergibt sich aus der Lohn- und Gehaltsabrechnung des aktuellen und des Vormonats. Wir kompensieren jedem Streikenden diese Summe, damit er sich sicher fühlt und weiter protestieren kann“, erzählt Strishak.

Zum 8. September wurden bereits 816 Anträge bei BYSOl gestellt. 282 davon wurden genehmigt, 52 Menschen haben das Geld ausgezahlt bekommen. Insgesamt wurden 78.000€ ausgezahlt.

Nach einem ähnlichen Schema agierte auch die Stiftung „Protect Belarus“ von Mikita Mikado. Zum 30. August gab lagen dort fast 600 Anträge, 322 davon wurden bearbeitet, 50 genehmigt und 22 bereits ausgezahlt.

Zusätzlich zur finanziellen Unterstützung feilt BYSOL gerade an einem Prozess, wie man den Menschen zu einer neuen Berufsausbildung verhelfen kann.

„Wir bringen sie mit den Unternehmen zusammen, die bereit sind Umschulungen zu unterstützen und die Menschen später einzustellen. Wir haben ein Mentoringprogramm aufgebaut, in dem Experten aus unterschiedlichen Branchen Menschen betreuen, die ihre Jobs aus politischen Gründen verloren oder gekündigt haben“, erzählt Andrej Strishak weiter.

„Es gibt Tausende Opfer, die Rehabilitation kann Jahre dauern“

Opfer der Polizeigewalt gegen friedliche Protestierende können Hilfe von den Projekten By_help und „Imena“ (auf Deutsch „Namen“) erhalten.

By_help hilft den Opfern und den Festgenommenen, Geldstrafen, Therapiekosten zu bezahlen. Ebenso übernimmt die Stiftung die Kosten für den Gefängnisaufenthalt (die Festgenommenen in Belarus müssen dem Staat die Kosten für die Zeit in Untersuchungshaft zurückzahlen).

Um Hilfe von By_help zu erhalten, müssen das Opfer oder seine Angehörigen ein Formular auf der Internetseite der Stiftung auszufüllen. Als Nachweise werden sowohl ärztliche Befunde über die Körperverletzungen als auch andere Beweise (Foto- oder Videoaufnahmen etc.) akzeptiert, die die Verletzung belegen können.

„Viele wenden sich an Ärzte, um Befunde zu bekommen, wir dachten es wären weniger. Viele bringen aber auch Fotos und Videos“, berichtet Koordinator Alexej Leontschik.

Viele durch die Polizei Festgenommene berichten über Körperverletzungen. Menschenrechtler und unabhängige Medien sprechen von Folter.
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Zum 14. September hatte die Stiftung insgesamt Hilfszahlungen in Höhe von 785.948 belarusische Rubel (302.660 US Dollar) geleistet. Dieses Geld wurde für das Begleichen von 302 Geldstrafen, für 148 Fälle medizinischer Hilfeleistung, für sieben Fälle von Anwaltshonoraren und für das Begleichen von Aufenthaltskosten in der Untersuchungshaft (36 Fälle) gebraucht.

By_help war eine der ersten Stiftungen, die angefangen hat, Geld für die Opfer der Polizeigewalt bei den friedlichen Protesten zu sammeln.

Das Projekt wurde im Frühjahr 2017 ins Leben gerufen, als Aktivisten eine Spendenaktion zur Unterstützung reppressierter Teilnehmer des „Marsches der Nicht-Parasiten“ starteten. Der Marsch war eine friedliche Protestaktion gegen die Einführung einer Arbeitslosensteuer in Belarus. Bei der Aktion sammelte By_help eine für damalige Verhältnisse rekordverdächtige Summe von 55.000 US-Dollar.

„Dieses Mal hatten wir 55.000 US Dollar innerhalb von zwei Stunden zusammen, direkt nach den Wahlen. Mittlerweile sind es rund drei Millionen Euro. Und das wenn man nur Facebook und Paypal berücksichtigt. Es gibt ja noch andere Fundraiser und Projekte, also sind es insgesamt noch weitaus mehr, als drei Millionen“, erzählt der Koordinator von By_help Alexej Leontschik.

Die Opfer, die eine medizinische Hilfe oder eine langfristige Therapie benötigen, werden von dem Wohltätigkeitsprojekt „Imena“ unterstützt. Dort wird besonders Wert darauf gelegt, Menschen unabhängig von ihren politischen Ansichten zu helfen. Die Projektmitarbeiter berichten über viele Anfragen von Menschen, die gar nicht vorhatten an Protesten teilzunehmen, und trotzdem von der willkürlichen Polizeigewalt erwischt wurden.

„Imena“ ist als Plattform seit fünf Jahren in Belarus tätig. Dort werden Mittel für verschiedene Wohltätigkeitsprojekte wie Obdachlosenhilfe, Therapie für HIV-Infizierte, ambulanten Dienst des Belarusischen Kinderhospizes und viele andere gesammelt.

Eine Spendenaktion für Gewaltopfer und Verletzte startete „Imena“ direkt nach Beginn von Massenverhaftungen und und gewaltsamen Auflösungen der friedlichen Proteste. Innerhalb von wenigen Tagen kamen über eine Million belarusischer Rubel (ca. 330.000 Euro) zusammen. „Imena“ betrachtete diesen Betrag als ausreichend und stoppte die Aktion. Viele medizinische Zentren haben die Bereitschaft gezeigt, Opfer der Gewalt kostenlos zu behandeln.

„Bis jetzt hatten wir keine Notwendigkeit, das Geld auszugeben. Wir werden es höchstwahrscheinlich für langfristige Rehabilitationen einsetzen“, sagt Jekaterina Sinjuk.

 Die Proteste in Belarus halten seit anderthalb Monaten an.
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„Imena“ hat besonders die Menschen, die eine langfristige Therapie und Rehabilitation gebrauchen werden, im Fokus.

„Es gibt sehr viele Opfer, Tausende. Es ist eine landesweite Tragödie. Ich weiß gar nicht, wie lange es dauert bis wir sie alle gefunden haben. Im Moment betreuen wir nur einen Teil dieser Menschen. Und wir wissen, dass es viel mehr von ihnen gibt“, sagt Jekaterina.

Um Hilfe zu erhalten, müssen ein Antragsformular ausgefüllt und Nachweise beigelegt werden.

Jeder Antragsteller bekommt von dem Projekt einen Koordinator an seine Seite gestellt, der ihn über alle Etappen der Therapie betreut, ihm bei der Orientierung, der Suche nach Medikamenten und Terminvereinbarung bei Ärzten hilft.

Anfang September gab es bei „Imena“ immer noch Anträge auf Hilfe von Verletzten während der friedlichen Protestaktion am 09.-12. August.

„Viele bleiben noch in stationärer Behandlung und die Anträge werden von Angehörigen oder Freunden gestellt. Jetzt läuft noch die Therapie, danach kommt Rehabilitation, die wahrscheinlich Monate, sogar Jahre dauern kann“, sagt Jekaterina Sinjuk.

Übertragungsschwierigkeiten

Menschen, die Hilfe erhalten haben und die Stiftungen selber verraten nicht die Kanäle, über die das Geld die Empfänger erreicht. Es bleibt unklar, ob das Geld in bar übergeben oder in irgendeiner Form überwiesen wird.

Das liegt daran, dass die belarusische Regierung die Tätigkeit von Stiftungen, die nicht im Land registriert sind als illegal betrachtet.

Am 9. September erklärte das Justizministerium von Belarus, dass die Tätigkeit von Stiftungen, die Spendenaktionen zugunsten der Verletzten, Bestraften und Gekündigten initiieren, sich außerhalb „des legalen Rahmens“ bewege, denn für solche Stiftungen sei eine staatliche Registrierung gemäß belarusischer Gesetzgebung zwingend notwendig.

Außerdem behauptet das Justizministerium, „fehlende Mechanismen der Transparenz und Kontrolle können zur illegalen Bereicherung durch an der Sammlung und Verteilung der Gelder direkt beteiligten Personen führen.“

Mikita Mikado erzählte der BBC, finanzielle Hilfe nach Belarus zu senden sei „sehr schwierig.“ „Das Regime hat in 26 Jahren ein System geschaffen, welches keine finanzielle Hilfe aus dem Ausland zulässt. Und finanzielle Hilfe innerhalb des Landes wird als kriminell eingestuft und entsprechend bestraft. Deswegen suchen wir neue Wege. Es ist ein großes Problem, welches wir lösen müssen.“

Dank einer rasanten Entwicklung des IT-Sektors der letzten Jahre bildete sich in Belarus eine Zivilgesellschaft und eine Mittelklasse.
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Die meisten Menschen, die Hilfe erhalten haben, behalten dies lieber für sich. Manche schämen sich, dass ihnen schon geholfen wurde, während ihre Kameraden noch warten müssen. Außerdem, sollte die Gesamtsumme 7.003 belarusische Rubel übersteigen, was gemäß heutigem wachsendem Kurs ca. 2.300€ bedeutet, muss der Betrag bei der Steuerbehörde angemeldet und besteuert werden.

Auch Arbeiter, die 1.500€ erhalten haben, werden mit der Steuerbehörde zu tun haben müssen, sollten sie zusätzlich zu dieser Summe Sachspenden oder Überweisungen bekommen.

Die Hilfe aus dem Ausland stellt ein großes Problem dar. In Belarus wird solche Hilfe durch das Dekret des Präsidenten „Über ausländische Spenden“ geregelt und muss an die Abteilung für humanitäre Hilfe bei der Administration des Präsidenten adressiert werden. Dies ist die einzige Behörde, die solche Hilfe empfangen und im Land verwalten darf.

Jedoch kann die Abteilung für humanitäre Hilfe nach eigenem Gutdünken über Empfänger und Höhe der Hilfe entscheiden, sowie auch dem potentiellen Empfänger mitteilen, dass sie die Annahme dieser Hilfe für nicht zielführend hält.

Neue Mittelklasse und die Zivilgesellschaft

Jedoch erreicht die finanzielle Hilfe ihre Adressaten ziemlich schnell, behauptet Woltschek. Dies geschieht dank den von der IT entwickelten speziellen Mechanismen. Welche Mechanismen gemeint sind, wird nicht offengelegt.

Früher sagte einer der BYSOL – Gründer, Jaroslaw Lichatschewskij, in seinem Interview mit ForkLog, dass Kryptowährungen eine wichtige Rolle bei Protesten spielen könnten. „Die Regierung schränkt Finanzströme aus dem Ausland massiv ein, Menschen werden an den Grenzübergängen intensiv durchsucht, damit keine Euros oder US Dollar eingeführt werden. Deswegen nutzen wir Bitcoin als Transportmittel“, erzählt Lichatschewskij.

Viele Stiftungen sammeln auch in Kryptowährung, zum Beispiel Heroes of Belarus, wobei unklar bleibt, wie die Spenden später verteilt werden.

Bereits im August haben sich Geschäftsleute aus dem IT Sektor öffentlich gegen gewaltsame Festnahmen der Protestierenden ausgesprochen.
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Andrej Strishak beantwortet die Frage nach Überweisungsmechanismen sehr allgemein.

„Der Mechanismus ist ziemlich kompliziert. Die Belarusische Regierung tut alles, um die Finanzströme zu verhindern. Aber wir haben etwas mehr Möglichkeiten als sie, denn auf unserer Seite sind Kreativität und die Fähigkeit, innovative Lösungen zu finden“, sagt Andrej Strishak und meint damit, dass die belarusische IT-Branche auf der Seite der Stiftungen ist.

Laut Andrej, basiert der Erfolg von BYSOL auf der Zusammenarbeit der Zivilgesellschaft und der IT-Branche.

Die Vertreter des IT-Sektors bilden in Belarus eine echte Mittelklasse, die von Jahr zu Jahr wächst. Der Anteil von IT im belarusischen BIP beträgt 6,5%; Hightech-Unternehmen sorgen für ca. 50% des BIP-Wachstums. Das durchschnittliche Gehalt dort ist mindestens zweimal so hoch wie das angebliche Durchschnittsgehalt im Land – 500€. In Minsk leben über 60.000 Mitarbeiter der Hightech-Unternehmen. Diese Menschen sind bereits seit vielen Jahren die wichtigsten Spender diverser Wohltätigkeitsprojekte.

Aktuell unterstützen sie die Stiftungen aktiv, und das nicht nur finanziell.

„Früher waren viele IT-er unsere Spender, unsere Abonnenten. Heute interessieren sie sich dafür, wie man eine Non-Profit-Organisation gründet. Sie haben verstanden, dass heute nicht nur das Geld, sondern die Initiativen und Stiftungen an sich am dringendsten sind, um den Bedarf in Gesellschaft abzudecken. Es ist ein gutes Zeichen dafür, dass Bürger bereit sind, Verantwortung füreinander zu übernehmen“, sagt Jekaterina Sinjuk.

Nicht nur belarusische Diaspora

Alexander Lukaschenko behauptete häufig, die Proteste in Belarus würden aus dem Ausland gesponsort und gesteuert. Mikita Mikados Antwort darauf lautet: Die Proteste werden vom belarusischen Volk gesponsort. Das Geld der Fonds kommt von Privatpersonen, nicht von ausländischen Staaten.

„Es gibt keinen Oligarchen, der auf Facebook zehnmal am Tag auf die Taste „10.000 US Dollar spenden“ klickt. Es ist eine Volksfront. Jeder gibt 10-15 Dollar dazu, weil sie wissen, außer uns selber wird uns keiner helfen“, fügt der Unternehmer hinzu.

IT-Sektor ist zu einer Lokomotive der belarusischen Wirtschaft in den letzten Jahren geworden.
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„Die Geographie der Spendenden ist sehr breit. In erster Linie weil das Fundraising über Facebook die Bearbeitung der Bankkarten von praktisch jeder Bank weltweit ermöglicht, sogar von den belarusischen Banken. Ich sage ,sogar,‘ weil die belarusische Regierung natürlich alles tut, um das zu verhindern“, sagt Andrej Strishak.

„Unter Spendern gibt es auch Ausländer, aber es sind maximal zehn Prozent“, erläutert der Koordinator von By_help Alexej Leontschik.

Laut Strishak, kamen ungefähr gleich viele Spenden aus Russland wie aus Westeuropa und den USA.

Eine positive Auswirkung auf die Spendenbereitschaft in Russland hatte auch die Tatsache, dass Alexei Nawalny kurz vor seiner Vergiftung seine Unterstützung den beiden Stiftungen By_help und BYSOL ausgesprochen hat, ist sich Strishak sicher.

Am 9.-12. August kamen die meisten Spenden aus dem Ausland, genauer gesagt von der belarusischen Diaspora im Ausland, betont Alexej Leontschik.

„Die weltweite belarusische Diaspora hat sich solidarisiert und richtet ihre Bemühungen auf einen Machtwechsel in Belarus. Nach unserer Einschätzung sind seit dem Zerfall der Sowjetunion circa eine Million Belarusen ausgewandert. Es sind talentierte, aktive und inzwischen schon wohlhabende Menschen. Sie sind gerade jetzt sehr aktiv in die Unterstützung involviert“, sagt Andrej Strishak.

Belarusen, die in den letzten Jahren ausgewandert sind, helfen Protestierenden.
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Alexej Leontschik sagt, heute sehe er fast keinen Unterschied mehr zwischen den Spenden aus dem Aus- und Inland – weder bei der Anzahl der Spendenden noch bei der Beitragshöhe.

Der Koordinator von By_help betont, insgesamt sei die Organisation der Hilfsprojekte in Belarus mit den Projekten in den Ländern mit entwickelter Zivilgesellschaft vergleichbar. Als Beispiel nennt er belarusische Autohäuser, die in ihren Werkstätten die während der Proteste beschädigten Autos kostenlos reparieren.

„Bis 2020 hatte man das Gefühl, es gäbe nur die Diaspora. Aber am 9. August wurde plötzlich jedem klar, dass es in Belarus eine Zivilgesellschaft gibt. Es hat eine beeindruckende Selbstorganisation der Bürger stattgefunden. Ich habe circa 800 Anträge von Volontären für By_help auf dem Tisch. Wahrscheinlich hat sich diese Zivilgesellschaft in den letzten fünf Jahren entwickelt – im Stillen, wie bei Partisanen“, sagt Alexej Leontschik.