Ein offenes Gespräch mit dem Berater Franak Viačorka
11. Dezember 2020 | Marya Mjalechina, KYKY
Wird Tichanowskaja bei Neuwahlen als Kandidatin antreten? Wie steht sie zu Russland und warum ist die Kommunikation mit der Regierung Lukaschenko so rüpelhaft geworden? Wer bezahlt eigentlich Tichanowskajas Lebensunterhalt in Litauen? Franak Viačorka, Swetlanas außenpolitischer Berater, vertritt heute bei KYKY ihr gesamtes Team.
„Wo sind alle anderen? Warum sind sie nicht bei der Arbeit?“
KYKY: Sie waren 2006 eine der Schlüsselfiguren in Milinkewitschs Team. Damals waren Sie erst 18 Jahre alt. Aber heute sind Sie 32, und sie sind ein Berater von Tichanowskaja. Ihr Vater war Anführer der Belarusischen Volksfront (BNF). Es sieht so aus, dass Sie Ihr ganzes Erwachsenenleben lang versucht haben, die Situation im Land zu verändern. Wann haben Sie verstanden, dass es in Belarus um die Demokratie ganz schlecht steht?
Franak Viačorka (FV): Meine Eltern haben einst gegen das Sowjetregime gekämpft: Mein Vater war in den 80er Jahren einer der Gründerväter der antisowjetischen Untergrundbewegung. Daher war mein Leben schon in jungen Jahren im Kampf. Ich hatte keine andere Wahl. Im Alter von 13 Jahren wurde ich zum ersten Mal festgenommen, nachdem ich das Wort „wähle!“ auf eine Mauer geschrieben hatte. Das war während der Wahlen im Jahr 2001. Dann nahm man mich wegen Flugblättern fest, und die ersten Gefängnisaufenthalte folgten bereits mit 18 Jahren. Ich war schon oft in Haft. Dann gab es auch die Zwangsexmatrikulation aus der Universität, Verhöre, Schläge. Ich hatte das „Glück“, viel durchzumachen, aber es gab noch nie eine solche Welle von Gewalt und Terror wie im Jahr 2020. Ja, in meinem Leben habe ich außer Lukaschenko keinen anderen Präsidenten erlebt, aber ich denke, wir sind nahe daran, dass sich bald alles ändern wird.
Franak Wjatschorka absolvierte die Universität Warschau in Polen und die „American University“ in Washington. Er studierte an der BSU, wurde exmatrikuliert und musste daher zum obligatorischen Wehrdienst. Von seiner Ausbildung her ist er Spezialist im Bereich internationaler Kommunikation, einer der Schöpfer von „Art Syaziba“, des Projektes „BNR-100“ und der Kampagne „Godna“. Er lebte bis vor kurzem in Minsk und arbeitete als Redakteur für Radio Liberty, als Strategiespezialist der US-Agentur für globale Medien (USAGM). Er war Präsident des Digital Communication Network und ein vom Atlantic Council eingeladener Experte.
KYKY: Wie sind Sie Berater von Tichanowskaja geworden? Unter welchen Umständen? Was sind Ihre Verantwortungsbereiche?
FV: Nach den Wahlen, als die erste Welle der Gewalt ausbrach, ging ich nach Kiew. Und schon dort kontaktierte ich das Hauptquartier von Tichanowskaja und bot meine Dienste an: Ich könnte in der internationalen Politik nützlich sein. Man antwortete mir, ich sollte nach Litauen kommen, man würde sehen. Nichts Konkretes. Und ich kam. Ich stellte ein starkes Team zusammen und wir begannen, ein außenpolitisches Programm zu entwickeln. Das Team besteht aus ehemaligen Journalisten, Analysten und Diplomaten. Tatsächlich funktionieren wir heute wie ein vollwertiges Außenministerium. Wir haben Kontakte zu 21 Ländern geknüpft. Aber jetzt delegiere ich immer mehr Befugnisse und verbringe immer mehr Zeit mit Swetlana bei Treffen, Interviews und Verhandlungen. Und ich höre nie auf, diesen Menschen zu bewundern. Ihre Stärke, ihren Charakter.
KYKY: Geben Sie zu, Sie sind ein bisschen in sie verliebt?
FV: Nein. Ich bin einfach von ihr begeistert, wie auch viele Belarusen, die an sie glauben. Im Team arbeiten heute ideologisch ganz verschiedene Leute: sowohl von Links als auch von Rechts. Aber alle eint das Banner von Tichanowskaja, wie einst auch das Hauptquartier der drei Frauen. Wir haben das Glück, so eine Anführerin zu haben.
KYKY: Wie beginnt der Tag von Swetlana Tichanowskaja und wie verläuft er?
FV: Sie ist sehr fordernd. Sie kommt als eine der Ersten ins Büro und schreibt sofort im Chat: „Wo sind alle? Warum seid ihr nicht bei der Arbeit?“ (lacht). Gegen 9 Uhr gibt es Kaffee mit dem Team und eine Besprechung der Nachrichten vom Vortag: Wie viele wurden festgenommen, wer muss unterstützt werden? Und erst danach beginnen die Treffen und Telefongespräche. Der Zeitplan ist eng: für ein Treffen hat sie 15 bis 30 Minuten. Sie hat manchmal bis zu 15 Aktivitäten pro Tag. Und sogar zu Hause ist sie immer erreichbar. Ich weiß nicht, woher sie ihre Kraft und Energie für ein Leben in einem so rasenden Tempo nimmt. Sie antwortet einfach: „Ich möchte so schnell wie möglich wieder nach Hause kommen.“
KYKY: Sie begleiten sie überall hin. Was denken Sie, fühlt sich Swetlana ebenbürtig, kann sie so großen Politikern wie Merkel und Macron das Wasser reichen? Wie verläuft die Vorbereitung auf die Treffen?
FV: Ihre innere Welt ist einfach anders aufgebaut. Für sie sind alle nur Menschen, egal ob Macron, Merkel, Baginskaja, ein Lehrer oder ein Arbeiter. Swetlana lässt sich nicht von Status und Titeln blenden. Sie hat nur einen Wunsch: zu helfen und zu retten. Sie verstellt sich nicht. Sie ist so. Als es ein Treffen mit Macron gab, hielt sie sich einfach und selbstbewusst. Macron war sogar aufgeregter als sie. Oder das Treffen mit dem slowakischen Ministerpräsidenten. Zuerst gab es eine gewisse Spannung und Aufregung, und dann sagte der Ministerpräsident zu ihr: „Mein Englisch ist nicht sehr gut, also werde ich mit Ihnen Slowakisch sprechen.“ Und Swetlana begann ihm auf sein Slowakisch in belarusisch zu antworten. So redeten sie, und dann wechselten sie trotzdem ins Englische, aber es war einfach nett. Oder dann gab es eine Situation, in der sie im Gespräch mit einem bekannten Politiker sagte: „Wollen wir die Diplomatie beiseite lassen. Sagen Sie es mir geradeheraus.“ Und dieses „direkt sprechen“ – das ist Swetlana wie sie leibt und lebt. Da liegt ihre Stärke. Sie weiß einfach, wie man gleichberechtigt mit Menschen unabhängig von ihrem Status spricht. Sie ist eine Politikerin, die sich wie ein gewöhnlicher Mensch verhält. Und gerade das unterscheidet sie von den anderen.
KYKY: Aber Treffen auf einer so hohen Ebene setzen die Einhaltung des offiziellen Protokolls voraus. Kommt es vor, dass jemand etwas vergessen hat, an einen falschen Ort gegangen ist oder so etwas? Irgendwelche Unbeholfenheiten?
FV: Etikette einzuhalten ist eine schwierige Angelegenheit. Als wir zum Beispiel nach Deutschland reisten, war es unmöglich, andere Treffen abzuhalten, bis Swetlana sich mit Merkel getroffen hatte. Dies wird von der diplomatischen Etikette verlangt. Außerdem ist es wichtig, ein richtiges Begrüßungsritual einzuhalten, sich an den richtigen Platz zu setzen. Deswegen, wenn es beispielsweise ein hochrangiges Treffen mit einem Präsidenten oder dem Kanzler gibt, wird für jeden Gast ein Mini-Training durchgeführt. Und es gab kein einziges Treffen, bei dem Swetlana nicht eine gute Figur gemacht und sich Patzer erlaubt hätte. Das einzige – sie macht sich oft Sorgen zu spät zu kommen, aber auch um ihre Sicherheitsleute. Alle sollten Essen bekommen, niemand sollte vergessen werden.
KYKY: Was soll man dazu sagen? Sie ist halt eine Mutter? Wie wird Swetlana im Westen allgemein empfangen?
FV: Sie wurde auch von konkurrierenden Parteien in Parlamenten von Deutschland und Schweden herzlich begrüßt. Aber im Westen wird Belarus eher als Idee wahrgenommen, nicht als Land. Alle möchten heute ein bisschen Belarusen sein. Menschen, die bereit sind, für ihre Würde und die Zukunft ihres Landes Risiken einzugehen. In Europa gibt es keine Diktatur. Und wenn Swetlana über die Getöteten, über Folter spricht, versetzt das alle in einen Schock. Und das gibt ein neues Verständnis für den Wert der Demokratie und wie leicht es ist, sie zu verlieren. Die Ereignisse in Belarus sind eine gute Lektion für die ganze Welt.
KYKY: Sicherheit, Begleitescorten, die fehlende Möglichkeit, sich selbstständig zu bewegen – hält Swetlana das für selbstverständlich oder ist ihr das unangenehm?
FV: Die Bodyguards leben mit ihr im selben Haus und unter demselben Dach. Und Swetlana kann nicht alleine ins Geschäft oder mit den Kindern spazieren gehen, aber sie akzeptiert es mit einer gewissen Demut. Obwohl klar ist, dass sie es nicht mag.
KYKY: Ja wirklich? Geht sie alleine in den Laden und auf den Markt?
FV: Ja, sie geht selbst einkaufen. Sie geht auch mit ihren Kindern spazieren. Natürlich raubt die Bewachung rund um die Uhr ihr die Privatsphäre. Und auf der Straße wird sie ständig erkannt, um ein Foto mit ihr oder um ein Autogramm gebeten. Sie hat keine Gelegenheit alleine zu sein – sie steht immer unter Aufsicht.
„Selbst Lukaschenko kann Woskressenski keine Legitimität verleihen“
KYKY: Tichanowskaja im Frühling 2020 und jetzt – sind das zwei verschiedene Menschen? Was hat sich an ihr grundlegend geändert?
FV: Sie ist eine echte Politikerin geworden. In sechs Monaten hat sie sich zu 100% gewandelt, Rhetorik und Diplomatie gelernt. Sie wird wahrscheinlich nicht mehr in der Lage sein, wieder der Mensch zu werden, der sie zuvor war.
KYKY: Glauben Sie, dass sie ihre politische Karriere fortsetzen will?
FV: Ich bin sicher, dass sie das machen wird. Vielleicht versteht sie es jetzt einfach noch nicht. Aber in sie werden einfach zu hohe Erwartungen gesetzt [als dass sie einfach aufhören könnte]. Politik ist kein Hobby. Wenn man dir das Vertrauen geschenkt hat, musst du das, was du begonnen hast, zu Ende bringen. Und Swetlana hat einen gesteigerten Sinn für Gerechtigkeit und ein hohes Verantwortungsbewusstsein. Und sie sagt nie etwas, was sie nicht auch erfüllen kann.
KYKY: Wird Tichanowskaja als Kandidatin zu Neuwahlen antreten?
FV: Vielleicht, obwohl ihr schon die Idee, an den Wahlen teilzunehmen, Angst macht. Aber selbst wenn sie nicht kandidiert, denke ich, dass Swetlana noch viele Jahre lang aktiven Anteil am politischen Leben des Landes haben wird. Sie wird für immer ein Symbol von Belarus bleiben.
KYKY: Haben Sie keine Angst, dass sobald der Zeitpunkt „der Alte ist mit dem Hubschrauber weggeflogen“ eintritt, sofort die Verteilung der Sessel beginnt und Tichanowskaja einfach aus dem Prozess herausgedrängt wird?
FV: Niemand kann Garantien geben, aber Tichanowskaja wird bis zur Bekanntgabe der Ergebnisse der Neuwahlen die Hauptfigur bleiben. Heute ist sie die einzige legitime Präsidentin von Belarus. Millionen Belarusen haben für sie ihre Stimmen gegeben. Und niemand wird in der Lage sein, sie aus diesem Prozess auszuschließen. Wenn es keine Tichanowskaja gäbe, würde es keine Verhandlungen mit der sogenannten Staatsmacht geben. Woskressenski kann auch eine Million runde Tische abhalten, aber solange am Tisch keine wichtigen Mitglieder des Koordinierungsrates unter der Leitung von Tichanowskaja sitzen, handelt es sich um eine Simulation. Niemand wird solche Verhandlungen als legitim anerkennen. Und selbst Lukaschenko ist heute nicht in der Lage, Woskressenski diese Legitimität zu verleihen.
KYKY: Witalij Krivko, Woskressenski… Was halten Sie von ihnen? Betrachten Sie sie als Verräter?
FV: Ich weiß nicht, welche Motive diese Leute antreiben. Sind sie Verräter? Oder sind sie gebrochen? Oder sind sie auf einer Mission? Wir werden die Motivation später herausfinden.
Aber wahrscheinlich sind alle Verräter, die sich bereit erklären, im Regime mitzuspielen, während Menschen geschlagen, gefoltert und in Gefängnissen festgehalten werden. Wie würde man es sonst nennen? Und es gibt keine Vergebung oder Erklärung für ihre Handlungen. Ich bewundere Viktar und Eduard Babaryka, Maria Kolesnikowa und alle, die sich geweigert haben, diese Spiele zu spielen.
KYKY: Wie wird sich die Situation weiterentwickeln, wenn alle politischen Gefangenen, einschließlich Sergej Tichanowski, freigelassen werden? Sergej könnte sich als eine völlig andere Person herausstellen: ein anderes Bild und eine andere Rhetorik als seine Frau.
FV: Natürlich hängt vieles von Sergej ab, aber ich denke, er wird keine andere Wahl haben, als seine Frau zu unterstützen und sich dem Tichanowskaja-Team anzuschließen. Sie ist jetzt die Anführerin und legitime Vertreterin des belarusischen Volkes. Und selbst die großen Namen, mit denen die Revolution in Belarus begann, werden gezwungen sein, Tichanowskajas Wahlkampagne bis zu den Neuwahlen zu unterstützen.
KYKY: Es gibt eine Meinung, dass heutzutage Intrigen um Tichanowskaja gewebt werden. Man sagt, dass sie von Ratgebern und ausländischen Beratern gesteuert werde. Und man benutze sie einfach, um eigene Ziele zu erreichen. Was denken Sie darüber?
FV: Es ist unmöglich, diese Frau zu steuern. Allein schon wie sie die Aufgaben verteilt und die Texte schonungslos korrigiert. Sie kann auch schreien. Ja, viele Menschen verstehen ihr Phänomen nicht. Eine Frau aus dem Nichts hat es in sechs Monaten an die Spitze der Ranglisten der einflussreichsten Menschen der Welt geschafft. Dies überrascht viele, weshalb Verschwörungstheorien aufgestellt werden. Und ihr Beispiel bestätigt noch einmal, dass Politik nicht nur ein Programm und Wissen ist, man muss die Welle der Erwartungen auffangen. Früher dachten viele, dass die Belarusen eine starke Hand und Lukaschenko brauchten. Aber heute sieht es anders aus: die Menschen haben begonnen, über die Realität zu reflektieren. Belarus braucht Selbstorganisation, Selbstverwaltung, einen Präsidenten mit nur repräsentativen Befugnissen und ein demokratisches Parlament.
KYKY: Das heißt, Sie befürworten eine parlamentarische und keine Präsidentenrepublik?
FV: Ganz genau. Belarus sollte eine parlamentarische Republik werden. Und es sollte eine klare Trennung der Regierungszweige geben.
KYKY: Sie sagten, dass Tichanowskaja schreien kann. Ich kann es nicht glauben – sie spricht immer so ruhig und gelassen.
FV: Sie ist ruhig und ausgeglichen, aber wenn sie mit etwas nicht einverstanden ist oder etwas nicht mag, kann sie auch die Stimme erheben.
KYKY: Wirklich schreien? Wann ist es das letzte Mal vorgekommen?
FV: Sie ist ruhig und ausgeglichen, aber wenn sie mit etwas nicht einverstanden ist oder etwas nicht mag, kann sie auch die Stimme erheben.
KYKY: Wirklich schreien? Wann ist es das letzte Mal vorgekommen?
FV: Ja täglich (lacht). Daher bin ich mir sicher, dass sie in jedem Beruf eine führende Position einnehmen könnte. Swetlana hat ausgezeichnete Menschenkenntnisse und kann ihre Meinung gut erläutern. Und wenn sie in einer Sache unsicher ist, wird sie es nicht sagen oder tun.
KYKY: Wer bezahlt Tichanowskajas Reisen in diplomatischer Mission?
FV: Die Wohnung und der Personenschutz werden von Litauen zur Verfügung gestellt. Die Reisekosten werden von den Gastgebern übernommen. Zum Beispiel wurde der Besuch in Dänemark von der Zeitschrift „Politiken“ bezahlt, die Swetlana mit dem Freiheitspreis ehrte. [Die Kosten für] den Besuch nach Polen hat eine der Universitäten übernommen, an denen Tichanowskaja eine Rede gehalten hat. In Wien wurden die Kosten von den Organisatoren der Konferenz zur osteuropäischen Agenda übernommen.
Swetlana erhält kein Geld von den Regierungen anderer Länder. Es gibt auch Sponsoren, darunter auch belarusische Geschäftsleute, die das Büro in Litauen unterstützen. Und erst seit Kurzem ist es möglich, den Mitarbeitern Gehälter zu zahlen. Davor hatten alle ehrenamtlich gearbeitet.
KYKY: Hat Swetlana Tichanowskaja Anspruch auf ein Gehalt?
FV: Ja, seit kurzem bekommt auch sie ein Gehalt. Aber es ist nicht viel.
KYKY: Nicht viel – sind es tausend Euro, zehntausend Euro?
FV: Es ist ein Durchschnittsgehalt in Vilnius, das etwa 1.200 Euro pro Monat beträgt.
KYKY: Wer initiiert Treffen mit den Staats- und Regierungschefs: das Team von Tichanowskaja oder die Gastgeber?
FV: Wir können uns auf einem so hohem Niveau nicht selbst einladen. Was wir aber tun können ist signalisieren, dass ein solcher Besuch für uns interessant wäre. Zum Beispiel mit dem finnischen Präsidenten zu sprechen. Und wenn das Signal angekommen ist, entscheiden die Gastgeber, ob eine Einladung erfolgt oder nicht. Heute bauen wir diplomatische Beziehungen für ein neues Belarus ohne Lukaschenko auf, damit wir später nicht alles von Grund auf aufbauen müssen.
KYKY: Handelt es sich nur um Networking oder werden bestimmte Themen während der Meetings besprochen? Zum Beispiel Investitionshilfe, Reformen und so weiter.
FV: Es werden immer mehrere Themen diskutiert, eines davon ist die Unterstützung von Belarus. Und wenn dieses oder jenes Land Swetlana empfängt, macht dieses Land damit deutlich, dass es ihre Legitimität als nationale Anführerin von Belarus anerkennt. Im Rahmen solcher Treffen werden auch die Einrichtung humanitärer Korridore, Visafragen und Sanktionen besprochen. Eine der letzteren Vereinbarungen besteht darin, OMON und GUBOPiK als terroristische Organisationen anzuerkennen. Man muss die finanzielle Unterstützung über die internationalen Organisationen, einschließlich Banken, einstellen. Es sollte eine internationale Untersuchung der Folter und Verbrechen des Regimes initiiert werden.
KYKY: Gibt es Vereinbarungen zur Abschaltung der Banken vom SWIFT-System?
FV: Es werden Vorbereitungen für verschiedene Szenerien getroffen. Die Trennung vom SWIFT ist die Ultima Ratio, die angewendet wird, wenn das Regime den Terror, sprich Folter und Mord, fortsetzt. Aber alles sollte schrittweise aufgebaut werden, deshalb sprechen wir vorerst über gezielte Sanktionen gegen Lukaschenko und seine Unterstützer. Dies ist notwendig, um die Eliten zu spalten – es sollte für sie unrentabel werden, Lukaschenko zu unterstützen. Schon heute ist jeder Tag, an dem Lukaschenko an der Macht ist, ein großer Verlust für das Land. Und das verstehen nicht nur die Belarusen, sondern auch die Russen. Daher gibt es immer mehr Menschen, die daran interessiert sind, ihn zu entmachten.
„Zur Zeit ist die Korrespondenz mit der Administration ziemlich kalt, manchmal auch ganz respektlos“
KYKY: Lawrows jüngster Besuch in Minsk hat gezeigt, dass der Kreml nachdrücklich eine Verfassungsreform in Belarus fordert. Der Druck aus Russland kann durchaus zu einer legitimen Form der Ablösung von Lukaschenko führen.
FV: Alles ist möglich. Aber ich würde keine allzu großen Hoffnungen und Erwartungen auf den Kreml hegen. Russland ist nicht die Seite, die den Belarusen helfen wird, ihre Probleme zu lösen. Das Beste, was sie tun können, ist sich nicht einmischen. Und ihr Vorschlag für eine Verfassungsreform ist nur ein Versuch, Zeit zu gewinnen, damit die Proteste nachlassen und Moskau das vorteilhafteste Szenario für sich selbst entwickeln kann. Eine Verfassungsreform auf Vorschlag Russlands ist nicht im Interesse von Belarus. Sie wird keineswegs die Probleme in der gegenwärtigen politischen und wirtschaftlichen Krise lösen. Und sie führt nicht zu Neuwahlen. Daher macht es noch keinen Sinn, die Verfassungsreform zu besprechen. Die Forderungen des Volkes bestehen darin, neue und faire Wahlen abzuhalten. Und darauf muss man bestehen. Keinem anderen Land ist es erlaubt, uns seine Interessen aufzudrängen.
KYKY: Hat sich die Haltung des Kremls gegenüber Tichanowskaja geändert?
FV: Der Kreml hat keine politische Position zu Belarus geäußert. Die Russen haben uns fast immer als ihr eigenes Territorium mit dem Gouverneur Lukaschenko betrachtet. Dieser ist ein wenig verrückt, aber vorhersehbar. Das russische Außenministerium baut gerade Beziehungen mit Polen, Armenien und den baltischen Staaten auf – mit allen außer mit Belarus. Und Moskau versucht gerade zu verstehen, was tatsächlich passiert ist. Tatsache ist, dass die Berichte für den Kreml über Belarus vom FSB erstellt wurden. Aber die Informationen für den FSB wurden direkt vom belarusischen KGB geliefert. In Russland war man überzeugt, dass das, was in Belarus geschah, eine Farbrevolution war, die aus dem Ausland finanziert wurde. Und erst jetzt beginnen sie zu verstehen, dass die Situation viel komplizierter und tiefer ist. Es kam die Ernüchterung, gefolgt von der Suche nach möglichen Szenarien, wie man die Situation auflösen könnte. Der Kreml kann Lukaschenko nicht leiden, aber sie wissen immer noch nicht, durch wen sie ihn ersetzen sollen.
Und unsere Position ist unverändert. Wir wollen, dass sich niemand in die inneren Angelegenheiten von Belarus einmischt. Wenn der Kreml in den ersten Monaten der Proteste Lukaschenko finanziell nicht unterstützt hätte, würde er sich im Amt nicht halten können. Und Mitte September hätten wir bereits über Neuwahlen verhandelt. Als der Kreml ins Spiel kam, wurde es komplizierter. Heute ist es notwendig, entweder diesen Einfluss zu beseitigen oder eine Einigung mit dem Kreml zu erzielen. Der Westen wird sich darin nicht einmischen.
Und es stellt sich heraus, dass Lukaschenko nur mit dem Kreml, während Tichanowskaja und der Koordinierungsrat nur mit dem Westen in Kontakt steht.
In dieser Situation gibt es nur wenige Möglichkeiten, eine Lösung für die Krise zu finden und einen Dialog mit Mediation aufzunehmen. Die letzte Hochburg des Dialogs ist die OSZE, aber bisher wurde nichts erreicht.
KYKY: In einem Ihrer Interviews sagten Sie jedoch, dass die Beratungen fortgesetzt werden und ein Dialog mit Vertretern von Lukaschenko stattfindet. Was für ein Dialog? Worauf haben Sie sich einigen können?
FV: Es gab mehrere Telefonate mit Andrej Sawinych, der Belarus in der Parlamentarischen Versammlung der OSZE vertritt. Über die OSZE-Vermittler übermittelten wir Botschaften an die Beamten von Makej und Administration des Präsidenten, unter anderem bezüglich der Aufnahme von Verhandlungen. Im September und teilweise auch im Oktober hatten wir einen guten Kontakt, aber im November ist es zum Stillstand gekommen. Selbst wenn wir heute kommunizieren, ist der Tenor kalt und manchmal sogar grob. In diese Briefen heißt es, Tichanowskaja und ihr Team hätten sich vom Volk gelöst, weshalb die sogenannten Machthaber nichts mit uns zu besprechen hätten. Trotzdem kann ich bestätigen, dass Swetlana die Möglichkeit hat, Lukaschenko jede Botschaft zu übermitteln – diese wird direkt auf den Tisch des sogenannten Präsidenten gelegt.
Aber Lukaschenko hat Angst vor Verhandlungen und verhält sich wie ein Schizophrener in einem Bunker. Vielleicht glaubt er wirklich, dass jeder ihn liebt und verehrt, und nur die Feinde den Dulles Plan umsetzen wollen. Er hat Angst, die Kontrolle über die Situation zu verlieren. Daher gibt es heute immer weniger Chancen, dass irgendwelche Verhandlungen mit Lukaschenko geführt werden.
Nach dem Mord an Raman Bandarenka gab es für ihn keine politische Zukunft mehr. Lukaschenkos Karriere wird ein unrühmliches Ende haben.
KYKY: Wie viel Zeit geben Sie ihm noch an der Macht?
FV: Ich denke, im Frühling wird das Datum der Neuwahlen und die endgültige Entscheidung über die Verfassungsreform bekannt gegeben. Eine Prognose für länger als drei Monate ist zur Zeit leider nicht möglich. Aber ich bin sicher, dass es 2022 keinen Lukaschenko mehr geben wird. Dies bedeutet jedoch nicht, dass alles auf einmal in Ordnung sein wird. Belarus steht immer noch vor einer schwierigen Übergangsphase und vor Reformen. Die finanzielle Sanierung wird etwa ein Jahr dauern – es wird notwendig sein, die Bedingungen und Garantien für Unternehmen, einschließlich der Unterstützung kleiner Unternehmen, wiederherzustellen und zu versuchen, diejenigen zurückzuholen, die das Land verlassen haben.
KYKY: Damit alles, worüber Sie sprechen, geschieht, muss eine Spaltung der Eliten stattfinden. Denken Sie, dass dies in Belarus möglich ist? Immerhin hat Lukaschenko in seinem Umfeld echte Sadisten versammelt. Und seine Umgebung ist immer noch monolithisch.
FV: Er versammelte nicht nur Sadisten um sich, sondern auch ungebildete, durch Niederlagen ihres Lebens geschädigte, zwielichtige Gestalten und neidische Schurken. Und es war Lukaschenko, der das System der äußersten Respektlosigkeit und Straflosigkeit landesweit geschaffen hat. Er selbst behandelt die Menschen als Vieh. Daher ist die jetzige Revolution nicht nur eine für Neuwahlen oder gegen Lukaschenko. Sie ist auch gegen die Unmenschlichkeit und Lügen, die das Regime kultiviert. Die Eliten sind zur Zeit nicht monolithisch, viele fliehen bereits von dem Schiff und ziehen Vermögenswerte aus dem Land ab. Ein wirklicher Wendepunkt wird jedoch eintreten, wenn die Oligarchen aus der näheren Umgebung von Lukaschenko öffentlich ihre Position erklären und die Menschen massenhaft das System verlassen. Wir wissen nicht, wann das passieren wird. Wir tun aber alles, um die Voraussetzungen dafür zu schaffen.
KYKY: Sie sagten, dass die Eliten Vermögenswerte aus dem Land abziehen – haben Sie eine Bestätigung dafür oder ist dies nur eine Annahme?
FV: Es sind Gespräche, Anrufe, Kontakte mit ehemaligen und gegenwärtigen Beamten und Geschäftsleuten. Sie alle denken über ihre Zukunft nach. Und viele sind in einer Sackgasse. Wenn sie weiterhin Lukaschenko unterstützen, werden sie in die Sanktionslisten aufgenommen, was bedeutet, dass sie Absatzmärkte und Lieferkanäle verlieren. Wenn sie das Regime nicht unterstützen, wird Lukaschenko sich rächen, indem er Unternehmen und Fabriken schließt oder verstaatlicht.
Und jetzt überlegen diese Geschäftsleute und Beamten, wie sie sich schützen und ihr Kapital erhalten können. Jemand schreibt Briefe an die Botschaften, damit sie nicht in die Sanktionslisten aufgenommen werden. Ein anderer versucht verzweifelt, Vermögenswerte aus Belarus abzuziehen.
Eine Gruppe internationaler Ermittler verfolgt derzeit solche Schemata. Das Problem liegt jedoch darin, dass die belarusischen Geldströme nicht so groß sind wie die russischen oder die ukrainischen. Wir sprechen nicht über Hunderte von Millionen Dollar, es sind viel kleinere Beträge. Dementsprechend ist es schwieriger, diese Schemata zu verfolgen. Wenn jedoch ein Gesetz zur Demokratisierung in Belarus verabschiedet wird, werden die internationalen Geheimdienste nach diesen Vermögenswerten suchen und sie identifizieren. Zu diesem Zweck wurde eine gesonderter Paragraph über gerichtliche Untersuchung von Quellen, Kanälen und Orten des Eigentums von Lukaschenko und seiner Unterstützer formuliert.
KYKY: Lassen Sie uns klarstellen. Sprechen Sie über bekannte Großunternehmer aus Lukaschenkos engster Umgebung?
FV: Ja, wir sprechen von großen Geschäftsleuten, die Lukaschenko nahe stehen, und von Direktoren großer staatseigener Unternehmen. Sie haben ja auch Kapital durch Korruptionsschemata erzielt. Lukaschenko hat einen völlig korrupten Staat aufgebaut, obwohl er selbst an die Macht kam und behauptete, Korruption zu bekämpfen. Aber heute sind alle staatlichen Unternehmen oder Fabriken, die mit dem Amt des Präsidenten und seiner Administration verbunden sind, reine Korruptionsstrukturen, die geschaffen wurden, um Geld zu waschen und abzuheben, Ströme zu kontrollieren und den Wettbewerb auf jede erdenkliche Weise zu zerstören. Lukaschenko steht an der Spitze dieser korrupten oligarchischen Struktur, in der jeder „gefesselt“ und am Haken ist. Es ist unmöglich, das System einfach so zu verlassen. Man würde eigenhändig sein Urteil unterschreiben. Und das System hat absichtlich jeden „beschmutzt“, damit es kompromittierende Beweise und Schuldbeweise gibt. Vielleicht deswegen kämpfen die Leute des Systems so verzweifelt darum, es zu behalten.
KYKY: In Belarus gab es bereits 2006 einen Versuch einer Farbrevolution. Die so genannte „Kornblumenrevolution“. Warum hat es damals nicht funktioniert? Und warum sollte es jetzt funktionieren?
FV: Erstens haben wir eine reifere Gesellschaft. Die Menschen haben gelernt, sich selbst zu organisieren, Innenhofinitiativen sind aufgetaucht und die nationale Identität wird wiederbelebt. Es hat lange keinen solchen Aufstieg gegeben. Die Belarusen sind zu einer vereinten europäischen Nation geworden. Niemand blickt zurück auf das sowjetische Erbe – es gibt keine Nostalgie. Jeder will es haben, wie in Europa: Unsere Mentalität ist reif dafür. Es ist ein gesunder Patriotismus entstanden, und die Menschen sind bereit, Verantwortung und Risiko für ihr Land zu übernehmen. Und sie verstehen den Wert dieses Kampfes. Dies ist die Garantie für den Sieg der Proteste. Lukaschenko verlor die gesamte Unterstützung und machte zu viele Fehler, was das Land in eine politische und wirtschaftliche Krise führte. Und niemand wird ihn weiter tolerieren. Sein einziger Verdienst heute ist, dass er die Gesellschaft zusammengebracht hat, um das Regime zu bekämpfen. Daher bezweifle ich nicht einmal, dass alles klappen wird – es ist nur eine Frage der Zeit.
KYKY: Und die letzte Frage. Traditionell gratuliert der Präsident den Bürgern seines Landes zum neuen Jahr. Wird Tichanowskaja eine Neujahrsansprache halten?
FV: Unbedingt! Und es wird auf dem YouTube-Kanal und in allen unabhängigen Medien, Telegram-Kanälen veröffentlicht. Ich denke, niemand möchte sich Lukaschenko am Festtag ansehen und sich die Stimmung verderben. Und denken Sie daran, dass das neue Jahr nicht nur ein Feiertag ist, sondern auch ein guter Grund, Lukaschenko so schnell wie möglich zu entmachten. Die Silvesternacht ist für die Spaziergänge gemacht!