„Der Dialog findet dort statt, wo das belarusische Volk es will“

Eine harsche Replik eines Mediziners im Gesundheitsausschuss an die Vorsitzende des Rates der Republik Kotschanowa

12. November 2020 | BYHelp-Mediagroup
Nikita Salawej.
Source: Aliaksander Ruzhatschka, Onliner

Obwohl in den letzten drei Monaten fast 20.000 Belarusen verhaftet, misshandelt und gefoltert worden sind, gibt es immer noch sehr viele mutige und ehrliche Menschen in Belarus.

Einer von ihnen ist Nikita Salawej, führender externer Fachberater für Infektions- und parasitäre Erkrankungen beim Gesundheitsausschuss der Minsker Stadtverwaltung sowie Lehrbeauftragter des Lehrstuhls für Infektionskrankheiten der Belarusischen Staatlichen Medizinischen Universität.

Nikita übt scharfe Kritik an den Äußerungen von Natalja Kotschanowa (der Vorsitzenden des Rates der Republik und engen Vertrauten des Diktators Lukaschenka – Anm. des Übersetzers) bezüglich der protestierenden Mediziner. „Seien Sie gewarnt: Es wird keinen Dialog auf den Straßen geben,“ ließ Kotschanowa den Medizinern ausrichten.

Seine Antwort an Kotschanowaveröffentlichte Nikita auf seiner Facebook-Seite:

„Frau Kotschanowa! Ich hoffe, es ist Ihnen recht, wenn Ihre Sklaven Sie so anreden? Denn genau das sind wir Ärzte für Staatsdiener und Machthaber geworden. Sie sind der Meinung, wir wären verpflichtet, immer und jedem medizinische Hilfe zu leisten, aber unsere Meinung äußern, unsere Kollegen vor gesetzwidrigen Festnahmen schützen, uns einfach während unserer – ich betone – Freizeit vor den Kliniken versammeln, das dürfen wir natürlich nicht. Dafür müssen wir bestraft werden. In Gefangenentransporter verfrachtet, verprügelt, in den Knast geworfen werden. Wir haben Pflichten, aber keine Rechte. Okay, so sei es. Sie sprachen neulich von Dialog. Aber den wollen Sie nicht auf der Straße führen. Gut, Facebook ist auch eine gute Dialogplattform.

Kommen wir nun zur Sache. Wogegen genau protestiere ich gemeinsam mit vielen, sehr vielen anderen Medizinern?

  1. Die hemmungslose Gewalt des Sicherheitsapparates gegen friedliche Bürger. Misshandlungen, Erschießungen, Vergewaltigungen der besten Vertreter unseres Volkes. Weil es den besten nicht egal ist. Genau aus diesem Grund sind so viele Mediziner, Sportler, Kulturschaffende, Universitätsdozenten, IT-Fachleute, Arbeiter und Angehörige anderer Berufe heute auf den Straßen unserer Stadt. Nicht dafür verbringen wir seit März Tag und Nacht in den Kliniken, helfen Patienten mit COVID-19, stecken in Schutzausrüstung und versuchen überhaupt ein paar Plätze für professionelle, spezialisierte Hilfe einzurichten, um diese dann mit Hunderten Patienten zu belegen, deren von Ihren Handlangern herbeigeführten Wunden und Verletzungen die Meisten von uns bis jetzt nur aus Lehrbüchern für Kriegsmedizin kannten. Wir forderten, fordern und werden weiterhin fordern, jede Form von Gewalt sofort zu stoppen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. So viel zu dem von Ihnen so häufig zitierten Rechtsstaat.
  2. Die Scheinwahlen. Ja, dieses Mal sind sie mit den gefälschten 80% nicht durchgekommen. Das Volk ist aufgeklärter, aktiver und kreativer geworden. Unabhängige Online Wahl-Plattformen mit über einer Million Nutzern, weiße Bänder, auf besondere Art gefaltete Wahlzettel – das alles zusammen zeigte so deutlich dass Sie und Ihre Schergen verloren haben! Hätten Sie nur einen Hauch von Gewissen und Ehre, hätten Sie unser Land, welches so viel gelitten hat, in Frieden gelassen und ihm die Chance gegeben, aus der Isolation herauszukommen und sich normal zu entwickeln. Aber Sie haben weder Gewissen, noch Ehre. Sie haben beschlossen, wie immer, den Menschen ins Gesicht zu spucken. Die Sklaven sind das ja gewohnt. Sie wischen die Spucke weg und am nächsten Tag erinnert sich keiner mehr. Aber wir erinnern uns. Und wir werden nicht vergessen! Und die neuen Wahlen wird es gewiss bald geben, ohne die blauen Finger.1
  3. Lüge über alles und auf allen Ebenen. Nehmen wir zum Beispiel das dringendste Thema – COVID-19. Wie lange wollen Sie noch die Märchen von den „knapp Tausend“ Infizierten erzählen? Klar, es ist dem System hoch anzurechnen, dass in den letzten zwei Tagen die Zahlen wenigstens auf „knapp über Tausend“ korrigiert wurden. Vielleicht klappt es dann auch mit den Totenzahlen? Ich werde den Hinterbliebenen keine Geschichten darüber auf die Nase binden, warum ausgerechnet ihr Vater verstorben ist, wenn es im ganzen Land nur vier Todesopfer gibt! Wahrscheinlich, weil er ungenügend behandelt wurde… Nein, meine Damen und Herren, in den meisten Fällen wurden Patienten gut behandelt, sonst würde es um das Vielfache mehr Todesfälle geben als es sie jetzt schon gibt. Es ist nur so, dass sogar in den führenden westlichen Kliniken die Todesrate unter COVID-19 Patienten auf Intensivstationen bei 16% bis 20% liegt, im Schnitt ist sie jedoch 40% und kann bis zu 60% hochklettern. Jedes Schulkind kann diese Multiplikationsaufgabe lösen… Außerdem möchte ich an Dutzende Pflegekräfte, Krankenschwester und Ärzte erinnern, die im Dienst an COVID-19 verstorben sind. Seit März hatte das Gesundheitsministerium keine Zeit gefunden, um ihr Andenken in irgendeiner Form zu würdigen, sei es mindestens auf der Seite des Gesundheitsministeriums.
  4. Zwangsexmatrikulationen von Medizin- und anderen Studenten. Das was heute in der Belarusischen Staatlichen Medizinischen Universität passiert, erinnert an Stand-up Comedy. Viele der „vielleicht Exmatrikulierten“ sind sich bis heute nicht über den eigenen Status im klaren, sie haben nichts offizielles in den Händen. Den Dozenten wird erzählt, dass diese Studenten für Disziplinarverstöße der Uni verwiesen wurden, und nicht für ihre politische Haltung oder weil jemand im Fernsehen gesagt hat, eine Universität ist kein Ort für solche Menschen. Doch, sie ist genau der richtige Ort. Denn es sind genau die besten, klügsten Studenten, die Initiative zeigen und die Zukunft ihres Landes verbessern und mitgestalten wollen, der von der Uni verwiesen werden. Aber es gibt einen Trost. Sehr bald werden sie zurückkommen. Was man nicht über die Universitätsleitungen behaupten kann, die die Schande der Repressionen über sich gebracht haben. Sie werden sich nach anderen Tätigkeiten umschauen müssen.
  5. Festnahmen, Misshandlungen, Verhaftungen, Kündigung unserer Kollegen. Viele von uns arbeiten seit März von morgens bis abends und riskieren dabei ihr Leben. Heute kann man in Akrestsina Konsilien auf höchstem Niveau einberufen, denn die besten Namen unserer Medizin sind dort eingesperrt. Und das war Ihr größter Fehler. Sie dachten, Sie können uns alle und jeden Widerstand im Keim ersticken. Aber jedes Unglück hat auch seine gute Seite. In der medizinischen Community gab es ein Problem mit mangelnder Solidarität. Dieses Problem löst sich jetzt von Tag zu Tag, wir solidarisieren uns immer mehr. Videobotschaften schießen wie Pilze aus dem Boden, Tausende Mediziner unterschreiben schriftliche Petitionen. Auch diejenigen, die sich früher für Politik nicht interessiert haben, haben ihren wahren „Wert“ für diesen Staat erkannt und haben die „Dankbarkeit“ des Regimes für ihre Leistung erfahren. Sie haben verstanden, dass man für Freiheit und Rechte kämpfen muss. Also wird es auch die Sklaverei bald Geschichte sein.

Ich habe versucht, ehrlich und sachlich meine Meinung und die der meisten meiner Kollegen darzulegen. Wenn Sie die Gelegenheit fänden, uns zu antworten, würden wir uns sehr freuen. Aber bitte um Ehrlichkeit, Punkt für Punkt und kein Geschwätz. Davon haben wir in den letzten 26 Jahren schon genug gehabt. Und bezüglich des „Dialogs auf den Strassen“… Der Dialog, Natallia Iwanowna, wird dort stattfinden, wo das belarusische Volk es will.“

Nikita Salawej erklärte: „Ich schließe mich dem Koordinierungsrat an, da ich der Ansicht bin, dass die Gesellschaft jedes Vertrauen zu den Machthabenden verloren hat.“


1 Anspielung auf eine Rede vom Diktator Lukaschenka, in der er versprach, „gegen Willen des Volkes, nicht an seinem Stuhl mit blauen Fingern festzuhalten“ (Anm. des Übersetzers).