„Da ragte ein Knochen aus seinem Arm“

Chuprinsky über Akrescina und Schodsina

17. August 2020, 15:32 | Dev By Media
Bild: dev.by

Victor Khamenok, CEO von Rozum Robotics, postete ein Video bei Facebook, in dem Mikhail Chuprinsky, Miteigentümer von Rozum Robotics, von seiner Inhaftierung und dem Aufenthalt in Akrescina und Zhodino erzählt.

Zur Erinnerung: Mikhail Chuprinski wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. August im Eingangsbereich seines Wohnhauses verhaftet.

Wie alles geschah

Am 9. August bin ich ein wenig durch die Stadt gelaufen, ein paar mal bin ich mit Hilfe meiner schnellen Beine dort weggekommen, wo ich auch weg wollte. Ich war bereits am Haus und stand im Eingangsbereich, keine Gefahr in Sicht. Auf einmal sprangen sie hinter der Ecke hervor. Sie waren wohl an der Mauer herangeschlichen. Ich machte nur ein paar Schritte in den Eingangsbereich, da wurde ich schon festgenommen und weggebracht.

Zwei Tage später wurde mein Bruder an einer anderen Stelle verhaftet. Eigentlich wurde ich ziemlich professionell festgenommen. Nur als sie mir die Arme hinter dem Rücken verdrehten, schlugen sie mich. Sie nahmen mich fest, zerrten mich in einen Kleintransporter, einer setzte sich auf meinen Kopf.

Frage: Waren diese Menschen uniformiert? (Frage von Kollegen, die nicht im Bild sind)

Ja, das waren sie. Höchstwahrscheinlich waren es Leute von der „Spezialisierten Eingriffstruppe“ (SOBR), nicht die Polizei-Sondereinheit (OMON). Allerdings kenne ich mich mit den unterschiedlichen Einheiten nicht so gut aus. Ich hatte Glück. Ich war nicht in einem jener Gefangenentransporter, in dem die sich richtig austoben können, sondern in einem, der aus schmalen „Bechern“ [Metallverschläge, je 1 Quadratmeter Fläche] besteht, in die jeweils 2 bis 3 Personen gestopft wurden.

Frage: War das einer mit grünem Fahrerhaus? (Frage von Kollegen, die nicht im Bild sind)

Das habe ich nicht gesehen, ich konnte nur meine Schnürsenkel sehen.

Als nächstes wurde ich direkt nach Akrescina [berüchtigte Haftanstalt im Zentrum von Minsk] gebracht. Im Polizeitransporter war ein Mann, dem ein Knochen aus dem Arm ragte, er stöhnte – das Fahrwerk von so einem Transporter ist auch nicht gerade sanft. Aber das Schlimmste kam danach. Im Nachbar-„Becher” fingen sie an zu schreien: „Er atmet nicht, er atmet nicht!“

Erst brüllten sie: „Scheiß drauf“, dann hielten sie an und sahen nach. Einer sagte: „Wir haben eine Leiche, was sollen wir tun?“ Andere antworteten: „Schmeiß ihn raus, wenn euch der Papierkram zu viel ist“. Sie warfen ihn raus, wir fuhren weiter. Das habe ich nicht gesehen, aber gehört.

Akrescina

Die weißen Bänder schnitten sie den Leuten mit der Haut ab. Wann immer sie wollten, schlugen sie zu. Menschen mit ungewöhnlichem Äußeren wurden einfach zu Brei geschlagen. Wir hatten einen Mann in unserer Zelle, dem eine gebrochene Rippe aus der Seite ragte. Er war komplett blutüberströmt. Dann kam die Ärztin, scheinbar eine dieser „SS-Leute in Weiß“. Die sagte, es handele sich offenbar um eine Schädelfraktur. Sie erlaubte es nicht, den Mann ins Krankenhaus zu bringen. Meinen Bruder und noch Paar andere haben die Ärzte versucht mitzunehmen. Aber die Krankenwagen wurden angehalten, wieder überprüft und die, die sich noch bewegen konnten, wurden aus den Wagen wieder herausgeholt.

Dieser Mann [mit Schädelfraktur] hat 12 Tage Knast bekommen, nicht 15, wie all die anderen. Vermutlich ein „Rabatt” für den Schädelbruch.

Wir waren 47 Personen in einer Fünf-Mann-Zelle. Wir wurden ständig umgeschichtet, und sie spritzten Gas in die Zelle. Die Leute klagten über Luftmangel, woraufhin sie immer wieder Gas aus einer Sprühdose in die Zelle spritzten.

Das Atmen fällt mir schwer, ich huste die ganze Zeit, aber da gab es auch eine andere „Alternative“. Die Menschen in den Nachbarzellen begannen am dritten Tag, sich darüber zu beschweren, dass sie seit drei Tagen nicht zu essen bekamen (das stimmt auch), dass es keine Protokolle gibt und keine Gerichtsverfahren stattfinden. Sie wurden immer lauter, wir in unserer Zelle waren da schon erfahren und hielten still. Die Menschen aus den Nachbarzellen wurden herausgeholt, brutal zusammengeschlagen und zurückgeworfen.

Ich wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. August verhaftet. Wir haben einiges abbekommen, aber das war noch ziemlich human, wie sich herausstellte. Denn in der Nacht vom 10. auf den 11. August hörten wir Granaten explodieren, in der Stadt herrschte richtiger Krieg, die ganze Nacht wurden Menschen geschlagen. Ich stand auf dem Fensterbrett (dort gab es ein wenig frische Luft) und sah eine Ecke des Innenhofes der Haftanstalt und die Laube im Innenhof.

Sie schleppten Menschen dorthin, die sich nicht mehr bewegen konnten. Dann wurden zwei von ihnen zugedeckt und weggebracht.

Ich weiß nicht, was die genommen haben, aber ich glaube nicht, dass ein Mensch, der nicht unter Drogeneinfluss ist, die ganze Nacht rumlaufen und auf kniende Menschen einprügeln kann. Ich habe junge Männer gesehen, deren Knie wie geschwollene Fleischstücke aussahen. Wenn man sich bewegt, wird man geschlagen, wenn man friert, übergießen sie einen mit kaltem Wasser. Kurz gesagt: Dort wurden Menschen gefoltert und umgebracht.

Schodsina

Am dritten Tag wurden wir nach Schodsina gebracht. Mit Kabelbindern gefesselt, wurden wir von vier Poliszisten der Polizei-Sondereinheit (OMON) begleitet. Sie traten uns auf die Köpfe, schlugen uns. Dann war das Internet wieder an und sie glotzten auf ihre Smartphones und lasen die Nachrichten auf NEXTA [unabhängiger Nachrichtenkanal]. Sie sagten immer wieder: Was zahlt man dir dafür, Drecksack? Was kriegst du? Ist dir das zu wenig? Und am Ende fragten sie: Warum nennt ihr uns Faschisten, wir sind doch genau so wie ihr. Sie selbst betrachten ihr Handeln also als etwas ganz Normales.

In Schodsina verbrachten wir die erste Nacht auf der Straße. Nicht, weil es dort schlecht war und das Personal uns schlecht behandelt hätte – es gab im Gefängnis schlicht keinen Platz für uns alle. Wir waren also im Gefängnisinnenhof und spielten Pinguine in der Antarktis: Wir drückten uns aneinander, um uns irgendwie aufzuwärmen.

Gegen Morgen wurden die Zellen teilweise geräumt. Unter uns war Sergej, ein Ex-Knacki, und während sie uns führten, wurde er immer bedrückter. Dann wurde klar, dass wir in den Trakt gebracht wurden, in dem lebenslange Freiheitsstrafen verbüßt werden. An jeder Tür waren Fotos mit Beschreibungen, wer was verbrochen hat. Also wurden sogar diese Zellen verdichtet, um uns auch noch da hineinzustopfen.

Da war es schon recht komfortabel: 22 Menschen in einer Zelle für 8, jeder hatte Platz zum Sitzen. Und wir wurden auch normal behandelt. Ich habe über Schodsina viel Schlechtes gehört, aber im Vergleich mit dem, was in Akrescina passierte, war Schodsina der reinste Kurort. Wir hatten bereits diesen Reflex: Hände sofort hinter den Rücken, Blick nach unten, immer rennen. Und auf einmal sagte der Wachmann: „Leute, stopp, beruhigt euch mal, folgt mir einfach, ohne das Ganze.“

Sie hatten nicht genug Wachleute und haben junge Polizisten aus dem städtischen Bezirksdienst herangeholt, um uns in den Zellen zu bewachen. Die Jungs hatten keine Ahnung von Gefangenenbewachung – sie ließen die Tür offen, drehten sich weg und unterhielten sich. Sie wussten also nicht, wie man Vorschriften befolgt, aber sie haben uns gut behandelt. Und irgendwann bekamen wir auch endlich was zu essen. Ja, es gab nicht genug Geschirr, Löffel und so weiter, wir aßen abwechselnd, aber im Vergleich zu Akrescina konnte man über diese Probleme hinwegsehen.

Dann standen wir vor der Aufgabe, ein Fenster zu öffnen. Ich habe in meinem Leben als Ingenieur zahlreiche Projekte durchgeführt, aber was ich da mit Hilfe von Einlegesohlen, geschmuggelten Schnürsenkeln, Brotkrume und einem abgebrannten Streichholz ausgetüftelt habe, werde ich auf jeden Fall nachbauen und fotografieren. Auf dieses Projekt bin ich besonders stolz. Wir mussten das kleine Fensterchen öffnen, um irgendwie atmen zu können, und es gelang uns mit Hilfe einfacher Gegenstände, die in der Zelle zu finden waren.

Menschen, denen in Akrescina die Kleidung vom Leib gerissen wurde, bekamen in Schodsina Kleidung und auch Schuhe. Im großen und Ganzen war es in Schodsina ganz erträglich.

Das Gericht

Am dritten Tag gab es eine Gerichtsverhandlung, die aber nicht vom Gericht durchgeführt wurde. Ich bekam alle Unterlagen von der Polizei ausgehändigt, einschließlich des Urteils. Sie riefen unsere Namen auf und holten uns aus den Zellen. Die, die zu 15 Tagen Haft verurteilt wurden, stellten sie auf eine Seite. Leute mit anderen Urteilen auf die andere. Und so ging ich mit einem vorgefertigten Haftbefehl zum Richter.

In meinem Fall war die Richterin halbwegs vernünftig. Sie stellte Fragen, erlaubte mir, das Protokoll zu lesen und etwas hineinzuschreiben. Ich schrieb hinein, dass ich darum bitte, meine Frau telefonisch zu benachrichtigen. Ich hatte versucht, mindestens ein Dutzend Nachrichten nach draußen zu schicken: Wir haben uns die Hände eingeritzt und mit Blut auf Toilettenpapier geschrieben, Buchstaben ins Papier gestochen, damit man das Geschriebene im Licht erkennen kann, in Schodsina haben wir mit Borschtsch auf Toilettenpapier geschrieben. Von diesem Dutzend kamen nur zwei an. Wegen einer rief man aus dem Gericht an, wegen der zweiten rief jemand an, als ich schon freigelassen war (die Person wurde vor mir freigelassen und wusste nicht, dass ich schon draußen war).

Aber das Gerichtsverfahren an sich war der reinste Zirkus. Die Richterin stellte Fragen und las mir das Urteil vor, das ich bereits gesehen hatte: 15 Tage Haft und den Namen des Beamten, der für die Vollstreckung zuständig war.

Andere wurden auf eine ganz andere Art und mit besonderem Zynismus verurteilt. Da gab es einfache Arbeiter, die ihr Urteil lasen und sagten: „Das ist doch Quatsch, da steht, ich wurde in der Asanaliev-Straße festgenommen, aber ich weiß ja nicht einmal, wo das ist. Ich wurde doch am Bahnhof festgenommen, und das war vier Stunden früher, als hier geschrieben steht“. Die Antwort war: „Wollen Sie damit sagen, dass die Polizei lügt?“ So ging das vonstatten.

Wenn man versuchte, einen Anwalt anzurufen, wurde man herausgeführt und bekamen erklärt, dass man es lassen sollte. Die Leute ließen sich schnell überreden.

In Schodsina gab es eine andere Geschichte. Sie kamen rein und fragten, ob jemand einen Arzt braucht. Alle, die in Akrescina waren, sagten gleich: „Nein, danke.“ Wenn man in Akrescina nach einem Arzt fragte, wurde man aus der Zelle geholt, geschlagen und gefragt, ob es denn immer noch weh tut. In Schodsina waren einige Leute in unserer Haftanstalt, die auch in Schodsina vor Gericht gestellt und zu vier bis sechs Tagen Haft verurteilt wurden. Sie wurden auch nicht so brutal geschlagen, und für sie war ein Arzt immer noch ein Arzt. Der Ex-Knacki Sergej, der unter uns war, erkannte die Lage und sagte, er habe Bauchschmerzen, weil er durch die „Futterluke“ gesehen hatte, dass da ein ganz normaler Notarzt war, kein Gefängnisarzt . Sie haben ihm sogar eine Spritze gegeben, und sie versuchten, Leute mitzunehmen – ich weiß nicht, ob das geklappt hat. Aber es waren auf jeden Fall ganz normale Menschen.

Ich war in Akrescina meine Sachen holen und ich weiß, dass die dortigen Angestellten jetzt behaupten, dass sie ganz lieb und unschuldig sind, sie hätten sich nicht an den Misshandlungen beteiligt, dafür seien nur die Polizisten der Sondereinheit (OMON) verantwortlich. Das stimmt teilweise, aber eben nur teilweise. Die Wachen waren nicht vom OMON, und es waren auch nicht OMON-Leute, die uns in der Zelle mit Gas bespritzt und Menschen geschlagen haben, damit keiner meckert. Das waren hauptamtliche Mitarbeiter der Haftanstalt.

Schlussfolgerungen

Obwohl ich so viel Zuspruch bekomme, fühle ich mich ziemlich mies. Es war dumm von mir, mich festnehmen zu lassen, da war nichts Heldenhaftes dran. Ich habe mich nicht auf den gerechten Kampf gegen den OMON eingelassen – die, die das gewagt hatten, sind immer noch in Haft, gegen sie werden Strafanzeigen fabriziert.

Was mir aufgefallen ist: In den Haftanstalten waren nicht die gleichen Leute, mit denen ich 2006 in Untersuchungshaft saß – damals waren es allesamt Leute mit bewusst oppositionellen Ansichten, oppositionelle Studenten, ältere Männer, das waren Leute mit ausgeprägtem politischen Bewusstsein, keine „zufälligen“ Leute. Aber diesmal waren es zu 70 % einfache Arbeiter: Fahrer, Bauarbeiter, Köche, Schweißer. Viele hatten rein gar nichts mit der Sache zu tun: Ein Obdachloser wurde aus dem Bahnhof geworfen und lief zurück zu seiner Parkbank, er wurde verprügelt, verhaftet und nach einem „politischen“ Paragraphen verurteilt. Der Es-Knacki, der unter uns war, ging am Sonntagabend einfach nur raus, um mit seinen Kumpels einen zu trinken, auch er wurde verhaftet. Die meisten waren Arbeiter, einfache Männer, und plötzlich waren sie alle gegen Lukaschenko. Wir hatten nur einen einzigen, der so war, wie der Mann im bekannten Witz: „OMON, schlagt mich nicht, ich habe für Lukaschenko gestimmt!” Und es gab einen Provokateur, der aus Versehen festgenommen wurde, er hatte keine Papiere bei sich und versuchte es ihnen zu erklären, aber dafür bekam er noch mehr Prügel.

Der größte Fehler der Machthaber war, dass sie den Sondereinheiten den Freibrief gegeben hatten, alle wahllos zusammenzuschlagen. Das hat es auch bei anderen Wahlen gegeben, aber diesmal haben sie nicht nur diese idealistisch-naiven jungen Protestler, sondern auch sehr viele ganz gewöhnliche Menschen festgenommen. Und das hat man ihnen nicht verziehen. Hier geht es nicht mehr um Politik oder Wirtschaft, sondern um die Menschenwürde, um den Gerechtigkeitssinn. Das sind höhere moralische Kategorien.

Als ich nach der Entlassung meine persönlichen Sachen holen durfte, sah ich in einer der Zellen Victoria auf dem Boden sitzen, die die persönlichen Sachen der Verhafteten sortierte. Sie ist eine Freiwillige, die tagelang die Berge von Gegenständen und Papieren sortierte, um sie den Menschen zurückzugeben. Nach den Festnahmen wurde das ganze Zeug einfach in die Ecke geworfen und nicht dokumentiert – Tausende von Rucksäcken, Taschen, Tüten, alles durcheinander. Ganze zwei Kisten mit entladen iPhones. Ich hätte Hemmungen, dieses Gefängnis wieder zu betreten nach all dem, was ich in der Nacht gehört habe – die Schreie der Menschen, die dort geschlagen und umgebracht wurden. Aber Victoria und viele andere Frauen hatten keine Angst.

Und ich glaube aufrichtig, dass diese ganzen Ereignisse nie zustande gekommen wären, wenn ein Mann als Präsident kandidiert hätte, wenn Frauen sich nicht als Freiwillige, als juristischer Beistand und so weiter eingeschaltet hätten. Momentan ist eine große Freiwilligenbewegung im Gange: Es gibt Fahrer, es gibt Leute, die Lebensmittel und Wasser liefern, Leute, die den Müll wegräumen, die rechtlichen Beistand leisten, Psychologen – alle koordinieren sich selbst und versuchen, etwas zu tun und zu helfen. Und ich fühle mich wie ein Hochstapler, denn die eigentliche Arbeit wurde von diesen Menschen geleistet, während ich einfach meine Zeit in der Zelle vergeudete, anstatt mich nützlich zu machen. Ich bitte euch sehr: Richtet eure Zuwendung an diese Menschen, die wirklich arbeiten und nicht wie ich einfach nur labern und als Helden dastehen, die sie nicht sind.

Frage: Was ist mit den 15 Tagen Haft, die Sie bekommen haben? (Michail Chuprinsky wurde zu einer Haftstrafe von 15 Tagen verurteilt, jedoch vorzeitig entlassen – Anm. d. Redaktion).

Die Anwälte erklärten, dass es verfahrenstechnisch gar nicht geht, dass 12 Tage Haft einfach gestrichen werden. Man kann vom Präsidenten persönlich begnadigt werden, aber das betrifft mich nicht. Sie haben es so verpackt, als habe in der Sache eine Kommission des Innenministeriums getagt, die meinen Fall geprüft und zu Bewährung ausgesetzt hat. Dies wird aber nicht in zivilrechtlichen, sondern nur in strafrechtlichen Verfahren angewandt – und erst nachdem man mindestens zwei Drittel der Haftzeit abgesessen hat.

Sie ließen mich ein Papier unterschreiben und ich durfte es sogar lesen. Darin stand: Sollte ich innerhalb eines Jahres einen Gesetzesverstoß begehen, der eine Haftstrafe vorsieht, dann muss ich die alte Haftstrafe komplett absitzen und bekomme eine neue dazu. Und sollte ich einen Gesetzesverstoß nach dem gleichen Artikel begehen – Teilnahme an Kundgebungen und so weiter –, dann erwartet mich eine strafrechtliche Verfolgung – so stand es geschrieben. Ich weiß nicht, ob das überhaupt legal ist, aber in diesem Land ist die Rechtsprechung unheimlich flexibel und lässt sich anscheinend in beide Richtungen verbiegen.

In Schodsina herrschte eine grundsätzlich andere Situation. Schodsina ist eine Kleinstadt und besteht im Grunde aus dem Belarussischen Automobilwerk (BelAZ), noch einem Werk und dem Gefängnis. Die Aufseher dort haben ganz andere Bedingungen. In Minsk ist man anonym, aber dort kennt jeder jeden, jeder weiß, wer wo arbeitet. BelAZ befindet sich bereits im Streik. Und man konnte sehen, dass die Aufseher in Schodsina auch unter dem Eindruck der Ereignisse standen. Das änderte ihre Einstellung nicht großartig, denn sie waren ja schon ganz in Ordnung. Ich persönlich habe ihnen nichts vorzuwerfen.

Natürlich tut es mir nicht leid, dass das passiert ist. Es tut mir leid, dass ich so dumm war, erwischt zu werden, und ich empfehle niemandem es mir nachzumachen. Aber die Menschenwürde und der Gerechtigkeitssinn sind jedem Menschen wichtig, auch mir. Und das war es wert.

Frage: Gab es auch Frauen? (Frage von Kollegen, die nicht im Bild sind)

Es hat sich alles vor unseren Fenstern abgespielt. Sie wurden schikaniert. Sie wurden gezwungen, sich komplett auszuziehen, und auf jede erdenkliche Weise erniedrigt. Als sie dann in die Zellen verlegt wurden… naja, diese Frauen waren richtige Kämpfernaturen. Sie haben vor allem die festgenommen, die sich an ihre Männer geklammert hatten, und wenn sie sie nicht von den Männern wegzerren konnten, haben sie sie auch verhaftet. Aber sie haben auch gezielt Aktivistinnen verhaftet. Und die machten dann Radau, als sie sich etwas erholt hatten. Sie bespritzten sie mit Gift, gossen Chorreiniger in die Zellen. Dann hörte ich die Wachen brüllen: „Jetzt begieße ich euch mit Scheiße!“ Sie öffneten eine Zellentür und schütteten etwas hinein, ich weiß nicht, was das war. Ich habe noch keine der Frauen wiedergesehen, aber ich hoffe, dass sie alle freigelassen wurden und psychologische Hilfe bekommen. Weil das einfach nur schrecklich war.

Noch etwas zu den Frauen: Die meisten Männer, die in Acrescina waren, sagten: „Tichanowskajas Mann wurde ins Gefängnis gesteckt, ihre Kinder wurden bedroht, sie hatte höllische Angst, aber sie ging raus und tat was. Und dann soll ich zu Hause bleiben?“ Und das ist eine wichtige Beobachtung zur Rolle der Frauen in dem, was gerade passiert. Wenn es ein Mann wäre… Nun ja, wäre Babaryka nicht weggesperrt worden, dann hätte er sich mit Tsapkala diese Männerspielchen geliefert, „wer von uns hat den größeren“ und dieser ganze Männerquatsch. Würde ein Fabrikarbeiter für Babaryka auf die Straße gehen? Niemals. Wir sollten zu unseren Frauen aufschauen und zu dem, was sie leisten.

Frage: Wie soll man sich verhalten, wenn man verhaftet, wenn man weggebracht wird? Was soll man tun, und was nicht, wenn man einfach abends Bier holen geht? (Frage von Kollegen, die nicht im Bild sind)

Wenn man schon verhaftet wird, sollte man still bleiben, den Stolz vergessen und tun, was einem gesagt wird. Jegliche Zeichen politischer Zugehörigkeit müssen abgenommen und weggeworfen werden. Dreht das T-Shirts auf links, wenn da irgendwelche Sprüche oder Symbole drauf sind. Im Gefängnis kommt das nicht gut. Da war ein Typ mit einem MMA-Shirt [Mixed Martial Arts], und die sagten: „Komm her, du Kämpfer!“ und schlugen auf ihn ein. Da waren tätowierte Ex-Fallschirmjäger mit diesen typischen gestreiften Unterhemden, die wurden gnadenlos zusammengeschlagen. Nicht aufzufallen ist die einzige Taktik, die dort helfen kann.

Frage: Haben Sie in der Zelle einen neuen Investor kennengelernt? (Frage von Kollegen, die nicht im Bild sind)

Ich habe viele anständige Leute getroffen. Unsere Wege hätten sich sonst nie gekreuzt – jeder lebt in seiner eigenen Blase. Und die Motive der Menschen sind sehr unterschiedlich. Menschen, die 400 Rubel im Monat verdienen und bereit sind zu streiken – das ist unschätzbar.

Trotz der Euphorie der letzten Tage bin ich sehr pessimistisch. Ich weiß, was passieren kann, wenn sie die Meute auf die Menschen loslassen. Ich bin immer noch der Meinung, dass sich höchstwahrscheinlich nichts ändern wird. Das Regime liegt im Sterben, das ist ganz klar, aber der Todeskrampf kann noch Jahre dauern. Seid vorsichtig mit der Euphorie. Was der Innenminister sagte, dass er seine Leute zurückhält, und das stimmt auch. Die reiben sich schon die Hände.

Also, Leute, passt auf euch auf. Seht mich an und macht es besser als ich: Lauft schneller, schaut euch öfter um, lasst niemanden von hinten an euch heran, achtet auf Busse und Lieferwagen, auf Hauseingänge und so weiter. Und macht keine Dummheiten. Ich danke euch allen.


Mikhail Chuprinsky ist Miteigentümer von Rozum Robotics und Führungspersönlichkeit der Minsker Hackerspace-Community. Diese Gemeinschaft stellte während der COVID-19-Pandemie individuelle Schutzausrüstung her. Hackerspace produzierte 40.000 Schutzschirme, 1200 Masken für kontaminierte Gebiete (sogenannte Schnorchel) und mehr als 6500 Schutzanzüge und lieferte sie an 456 Krankenhäuser in 142 Ortschaften.


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