Amnesty International meldet krasse Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit in Belarus; Haft mit offenem Vollzug wegen medizinischer Hilfe für Demonstranten, Gewalt in Gefängnissen, Verhaftungen wegen Farbe von Kleidung und Zeichnungen
7. April 2021 | Voice of Belarus
Amnesty International über Belarus: Krasse Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit
Menschenrechtler*innen von Amnesty International veröffentlichten einen Bericht über die Menschenrechtslage in der Welt im Jahr 2020, einschließlich Belarus.
Dem Bericht zufolge waren die Präsidentschaftswahlen in Belarus im August 2020 der Auslöser für „die krasseste Einschränkung der Rede- und Versammlungsfreiheit in Belarus seit der Unabhängigkeit des Landes“.
UN-Menschenrechtsexpert*innen erhielten 450 Zeugenaussagen über Misshandlungen, darunter Fotos, Videos und ärztliche Bescheinigungen. Amnesty International beschreibt diese Zeugnisse als „einen entsetzlichen Katalog von Misshandlungen“: Inhaftierte wurden gedemütigt, schwer geschlagen, vergewaltig, darunter auch Frauen und Angehörige sexueller Minderheiten, sie blieben ohne Nahrung, sauberes Wasser und medizinische Versorgung.
Mindestens vier Menschen wurden von Einsatzkräften getötet und mehrere andere starben unter verdächtigen Umständen, erinnerten die Experten.
Alles kann als Entlassungsgrund genutzt werden: abweichende Meinungen, Teilnahme an einem Streik, eine Ordnungswidrigkeit
In Belarus sind Änderungen des Arbeitsgesetzes in Vorbereitung. Wenn es in der vorgeschlagenen Form unterzeichnet wird, haben belarusische Arbeitgeber das Recht, Arbeitnehmer, die wegen des Aufrufs zu einem Streik und der Teilnahme an einem Streik unter Ordnungswidrigkeitsarrest stehen, zu entlassen.
Aber auch ohne dass solche Neuerungen verabschiedet worden sind, kommt es weiterhin zu Entlassungen aus politischen Gründen.
Der leitende Dozent Wiktar Iwantschanka wurde von der Belarusischen Nationalen Technischen Universität (BNTU) entlassen. Seit August 2020 brachte Iwantschanka seine politische Haltung offen zum Ausdruck: Er unterzeichnete Petitionen und nahm an Videoappellen teil.Wiktar Iwantschanka verbüßte auch eine Haftstrafe in einer Untersuchungshaftanstalt.
Uladzimir Lobach, Professor für Geschichte und Ethnograph, wurde von der Staatlichen Universität Polazk entlassen. Der Ethnograph war einer derjenigen, die den Appell zur Verteidigung der weiß-rot-weißen Flagge unterzeichnet haben.
Während der Proteste in Belarus wurden mehr als 130 belarusische Universitätsdozent*innen und Wissenschaftler*innen einem Druck aus politisch motivierten Gründen ausgesetzt. Mehr als 50 von ihnen wurden entlassen und weitere 16 haben selbst gekündigt. 33 Personen verbüßten verschiedene Arten von Haft aufgrund Ordnungswidrigkeiten.
Kämpfen die Belarus*innen noch oder bereiten sie sich auf die Auswanderung vor?
Das Zentrum für Neue Ideen zusammen mit der Volksbefragung führten zwischen dem 11. und 13. März 2021 eine Untersuchung durch. Ziel der Studie war es zu verstehen, welche Erwartungen die Belarus*innen an die Zukunft haben und welcher Teil bereit ist, aus Belarus auszuwandern. Die Zielgruppe der Umfrage war ein aktiver protestierender Teil der Bevölkerung, hauptsächlich Belarus*innen unter 50 Jahren mit Hochschulabschluss, die in Minsk leben und den Protesten positiv gegenüberstehen. Für die Analyse wurden 8.772 Fragebögen verwendet. Fast 95% der Befragten sind besorgt über die Fortsetzung der Repressionen, die Verhaftung von Aktivist*innen und die Verschärfung der Gesetzgebung.
Rund 80% sind besorgt über die sich verschlechternde Wirtschaftslage und das Aufdrängen der Integration mit Russland.
Gleichzeitig bleibt die Protestlaune optimistisch. Mehr als 43% glauben, dass Lukaschenko bis Ende 2021 zurücktreten wird, und weitere 20% glauben, dass dies bis 2025 der Fall geschehen wird.
Der Großteil der Befragen dachte über die Möglichkeit nach, das Land auf die eine oder andere Weise zu verlassen. Die Auswanderung wird vor allem von jungen Belarus*innen mit höherer Bildung (einschließlich europäischer und amerikanischer) sowie von Menschen mit ausreichend hohem Einkommen in Betracht gezogen.
Haft mit offenem Vollzug wegen medizinischer Versorgung der Demonstranten, Schläge in Gefängnissen, Verhaftungen wegen der Farbe von Kleidung und Zeichnungen
In Minsk wurde das Urteil im Fall von Aljaxandra Patrasajewa gefällt, die im August 2020 über Folter im Untersuchungshaftanstalt Akreszina berichtete. Sie wurde beschuldigt, an den Unruhen vom 10. August teilgenommen zu haben. Aljaxandra gab ihre Schuld nicht zu und sagte, dass sie Menschen verarztet habe. Infolgedessen erhielt Aljaxandra 3 Jahre „Haus-Chemie“ (Unterbringung in einer Haftanstalt mit offenem Vollzug).
Zweieinhalb Jahre Strafkolonie hat ein Aktivist aus Homjel, der 68-jährige Rentner, ehemaliger Mitarbeiter des Innenministeriums Uladsimir Njapomnjaschtschych für die Worte „organisierte kriminelle Gruppe“ bekommen.
In Brest verurteilte das Gericht den 32-Jährigen Andrej Ljawonjuk aufgrund des Zitats aus dem Gebet „Aber errette uns von dem Bösen“ [„Böse“, auf Belarusisch „Lukawy“, Anspielung auf „Lukaschenko“, Anm.] auf der Fassade eines Wohngebäudes. Das Urteil lautet ein Monat Haft.
Anführer der „Jungen Front“ Dsjanis Urbanowitsch erzählte nach 15 Tagen Haft in Akreszina und Schodsina über Haftbedingungen und Haltung gegenüber politischen Gefangenen. Die Zellen seien überfüllt, mit Chlor behandelt, das in den Augen brannte und das Atmen erschwerte. Alle Männer seien geschlagen worden, einige nur wegen ihres Nachnamens. Der Gefangene Tichanowitsch sei allein aufgrund der Tatsache geschlagen worden, dass sein Nachname dem Nachnamen von Tichanowski ähnelt.
Der Leiter der Vereinigten Bürgerpartei Mikalaj Kaslou wurde nach 15 Tagen Haft freigelassen. Er wurde von der Untersuchungshaftanstalt in der Akreszina-Gasse an den Stadtrand gebracht und dort abgesetzt.
In der Akreszina saß Mikalaj Kaslou in einem überfüllten Karzer. Dort wurden jeden Tag zwei Eimer Wasser mit Chlor auf den Boden geschüttet. Der Vorsitzende der Vereinigten Bürgerpartei weigert sich, eine Geheimhaltungsverpflichtung zu unterschreiben, wofür er bereits zweimal mit Ordnungswidrigkeitshaft bestraft wurde.
Junge Frauen, die in weiß-rot-weißen Kleidern den Peramoschzau – Prospekt entlang gingen, wurden festgenommen.
In Mahiljou wurde die 58-jährige Aljona Baschanawa festgenommen. Die Frau wurde direkt vom Arbeitsplatz abgeholt. Der angebliche Grund für die Festnahme sind „Zeichnungen an den Fenstern“. Welche Zeichnungen genau, ist unbekannt.