Tausende Belarus:innen in verschiedenen Ländern nehmen an Protesten teil; Regime beschuldigt Journalistin und Arzt der Aufwiegelung; Täglich Dutzende Gerichte und Verhaftungen von Aktivisten, Situation wird immer schlimmer
23. Januar 2021 | BYHelp-Mediagroup
Tausende Belarus:innen in verschiedenen Ländern gehen aus Protest auf die Straße
Tausende engagierte Menschen in Belarus und im Ausland versammelten sich zu Solidaritätskundgebungen mit politischen Gefangenen, insbesondere mit Ihar Losik, der seit 40 Tagen im Hungerstreik ist. Die meisten Proteste fanden als Solidaritätsketten und lokale Märsche statt. Menschen stellten sich mit Fahnen und Plakaten an den Straßen auf und vorbeifahrende Autos hupten.
Festgenommen wurden mehr als 140 Menschen, darunter Teilnehmer:innen an der Wohltätigkeitsaktion „Essen statt Bomben“, die gerade dabei waren, Lebensmittel an die Armen zu verteilen. Viele Demonstrant:innen drückten ihre Solidarität mit den Russen aus, die heute gegen die Inhaftierung von Alexei Navalny und das Putin-Regime protestierten. Auch in russischen Städten gingen Menschen mit weiß-rot-weißen Fahnen zu Demonstrationen und riefen „Es lebe Belarus!“. Belarusische und russische Diasporas trafen sich bei den Solidaritätsaktionen in ihren Städten unter dem Motto „Verschiedene Länder – das gleiche Problem“.
Regierung beschuldigt Journalistin und Arzt der Aufwiegelung nach dem Tod von Raman Bandarenka
Die Generalstaatsanwaltschaft schloss die Ermittlungen im Fall der TUT.BY-Journalistin Kazjaryna Barysewitsch und des Anästhesisten und Reanimatoren des Notfallkrankenhauses Arzjom Sarokin ab und überwies sie an das Gericht.
Beide sind in Haft weil der Arzt Informationen zur Verfügung gestellt hat, aus denen hervorgeht, dass im Blut des getöteten Raman Bandarenka kein Alkohol war, und weil die Journalistin diese Daten veröffentlicht hat.
In der offiziellen Erklärung der Generalstaatsanwaltschaft heißt es: „Die Verbreitung von Informationen, einschließlich falscher Informationen, an eine unbegrenzte Anzahl von Personen und ihr Widerspruch zu den offiziellen Äußerungen staatlicher Stellen haben einen öffentlichen Aufschrei ausgelöst und eine Atmosphäre des Misstrauens gegenüber den zuständigen Diensten geschaffen. Dies wirkte sich negativ auf den Zustand von Recht und Ordnung aus und hatte schwerwiegende Konsequenzen. Es führte zu einer Zunahme der Spannungen in der Gesellschaft und motivierte die Bürger zu illegalen Massenveranstaltungen und anderen illegalen Handlungen.“
Die Verteidigungsseite ist überzeugt, dass es in den Handlungen von Kazjaryna Barysewitsch kein Corpus Delicti gibt. Darüber hinaus ist aus der Botschaft der Staatsanwaltschaft nicht ersichtlich, welche Informationen sie für falsch hält und warum der Schluss gezogen wurde, dass das journalistische Material einen öffentlichen Aufschrei verursacht hat, und nicht etwa der Tod Raman Bandarenkas, über den bis heute kein Strafverfahren eröffnet wurde.
Wie Gerichtsverhandlungen ablaufen, wenn der Rechtsstaat nicht funktioniert: neue Strafen für normale Bürger:innen und Straflosigkeit für Sicherheitskräfte
Repressionen gegen belarusische Bürger, die beschlossen haben, ihren Protest auszudrücken, gewinnen an Dynamik. Jeden Tag werden unter verschiedenen Anschuldigungen Dutzende absurder Strafen ausgesprochen.
Eine Postbotin, die persönliche Daten von Polizeibeamten verbreitet hat, wurde vom Gericht zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. Die 56-jährige Laryssa Tankaschkur wurde beschuldigt, dem Administrator eines der Telegram-Chats die Namen und Wohnorte von 35 Polizisten mitgeteilt zu haben, wobei diese Daten der Abonnentenliste der Angestelltenzeitschrift „Na Strazhe“ [„Auf der Wache“, Anm.] des Innenministeriums entnommen waren.
Die 18-jährige Sofia Malaschewitsch, die bei einer Kundgebung im September Militärschilde bemalt hatte, wurde vom Gericht zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, ihr Freund Zichan Kljukatsch zu eineinhalb.
3 Jahre Gefängnis im offenen Vollzug mit Arbeitsauflagen erhielt der politische Gefangene Waler Kalentschyz. Am 10. August hatte Waler zusammen mit anderen Demonstrant:innen einen Stein auf eine Minsker Straße gerollt.
Die Einwohner von Swetlahorsk Waler Lasa wurde der Beleidigung eines Polizisten für schuldig befunden, er hinterließ einen Kommentar mit obszöner Ausdrucksweise in einem sozialen Netzwerk. Waler erhielt 2,5 Jahre Haft im offenen Vollzug mit Arbeitsauflagen, außerdem muss er dem Opfer für den „moralischen Schaden“ eine Entschädigung in Höhe von rund 470 Euro zahlen.
Zu zwei Jahren Haft im offenen Vollzug mit Arbeitsauflagen wurde Dsmitry Kulakouski, ehemaliger Leiter der Kriminalpolizei einer der Polizeistationen in Minsk verurteilt. Dsmitry ist sich sicher, dass die Anklage gegen ihn erfunden wurde: „Man hat beschlossen, an mir ein Exempel zu statuieren, um den verbleibenden Polizisten zu zeigen, dass es sich nicht lohnt, aufzuhören, weil dann genau das passieren würde.“ Dsmitry wurde freigelassen, nachdem das Urteil verkündet worden war, aber das war noch nicht das Ende. Verwandte, Freunde und Nachbarn kamen, um Dsmitry zu empfangen. Auf der Straße überreichten sie Dsmitrys 15-jähriger Tochter Luftballons: zwei runde weiße und einen in Form eines roten Autos mit weißen und schwarzen Aufsätzen. Unmittelbar danach wurden Dsmitrys Frau und seine 15-jährige Tochter festgenommen und zur Polizeiwache gebracht. Am Abend wurde das Mädchen freigelassen, ihre Mutter blieb auf der Polizeiwache.
Gleichzeitig wurde in den Handlungen des Polizisten aus Schodsina, der die Frau ins Gesicht schlug, kein Corpus Delicti gefunden. Nach Ansicht des Ermittlungsausschusses handelte der Polizist „unter Bedingungen eines begründeten beruflichen Risikos oder einer extremen Notwendigkeit“.
Landesweit Festnahmen von Aktivist:innen
Die Regierung hat einen noch aktiveren Angriff auf die Zivilgesellschaft begonnen: Tazzjana Lasiza Aktivistin der Kampagne „Sprich die Wahrheit“ aus Retschyza, Zimur Hasisau, ein Aktivist der Initiative „Ehrliche Menschen“ und Beobachter bei den vergangenen Präsidentschaftswahlen, sowie Maxim Winjarski Aktivist von „Europäisches Belarus“ wurden festgenommen.
Die freiwillige Sanitäterin und Gründerin der Freiwilligeninitiative „Straßenmedizin“ Karyna Radtschanka und die freiwillige Assistentin Tazzjana Labasa wurden in Minsk festgenommen, als sie Obdachlose behandelten. Die jungen Frauen wurden in die Polizeiwache des Bezirks Kastrytschnizki gebracht. Der Prozess ist für Montag geplant. Es gab Anwälte, die bereit waren, die Freiwilligen zu verteidigen. Dies berichtet die Initiative „Straßenmedizin“ auf Instagram.
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