14. September 2020, 10:20 | Aliaxandr Atroschtschankau, Reform.by
Hauptmann der Justiz Andrei Astapowitsch, ein leitender Ermittler der Bezirksabteilung Partizanski (Minsk) des Untersuchungskomitees der Republik Belarus, reiste nach Russland aus, nachdem er auf Instagram ein fünfseitiges Kündigungsschreiben veröffentlicht hatte, in dem er Gewalt gegen friedliche Demonstranten, Folter auf Polizeistationen und in Vollzugsanstalten beschrieb, über gefälschte Strafverfahren gegen Demonstranten und viele andere Dinge berichtete. Nach seiner Veröffentlichung reiste Andrei Astapowitsch nach Russland aus, von wo aus er versuchte, nach Lettland zu gelangen. Doch am 21. August wurde er nach einem erfolglosen Versuch, die Grenze zu überqueren, im Hotel „Rizhskaja“ in Pskow festgenommen, von wo ihn russische Sicherheitskräfte nach Belarus brachten. Hier brach die Kommunikation mit ihm ab. Vor einigen Tagen tauchte Andrei Astapowitsch in Warschau auf, wo er Aliaxandr Atroschtschankau exklusiv für die Leser von Reform.by erzählte, was ihm nach seiner Verhaftung durch russische Strafverfolgungsbeamte widerfahren war und vieles mehr.
Erzählen Sie uns, was nach Ihrer Festnahme passiert ist und wie Sie an die belarusische Grenze und weiter nach Polen gelangt sind?
Ich wurde von russischen Sicherheitsdiensten in Pskow im Hotel „Rizhskaja“ festgenommen. Ursprünglich wurde gesagt, dass eine Anhörung notwendig sei weil ich ohne Pass in das Hotel eincheckt habe. Dies war jedoch eine reine Formalität, da ich ja mit Freunden zusammen eingecheckt hatte und wir hatten zusammen einen Pass vorzeigt. Auf der Polizeistation wurde sofort klar, dass dies nur ein Vorwand war. Unmittelbar nachdem ich dorthin gebracht worden war, kamen Leute in Zivil, die Fragen stellten, die nichts mit meinem Aufenthalt im Hotel zu tun hatten. Als ich mich weigerte, mit ihnen zu sprechen, wurde ein Protokoll über eine Ordnungswidrigkeit wegen angeblichem Fluchen an einem öffentlichen Ort erstellt. Nach meiner Weigerung, das Protokoll zu unterzeichnen, versuchten sie, mich mit dem Vorwand Corona-bedingter Beschränkungen des illegalen Grenzübertritts zu beschuldigen, aber ich gehöre in die Kategorie von Personen, die auch im Falle einer Pandemie nach Russland einreisen dürften. Auch bei diesem Protokoll habe ich die Unterschrift verweigert, da mir klar war, dass sie nur einen Vorwand suchten, um mich in Haft zu nehmen um für meine Auslieferung an Belarus Zeit zu gewinnen.
Als die Polizisten die Protokolle in Anwesenheit von Personen in Zivil verfassten, die, als ich sie bat, mir zu sagen, von welcher Behörde sie kommen, ausweichende Antworten gaben, schob man mir die Protokolle zur Unterschrift unter. Da sah ich, dass sie nervös waren und auf fremden Befehl hin handelten. Ihre Hände zitterten geradezu. Menschen in Zivil verbaten den Polizeibeamten, mit mir zu sprechen, aber die Polizeibeamten in Pskow behandelten mich verständnisvoll und drückten ihre Sympathie für die Ereignisse in unserem Land aus. Ich konnte herausfinden, dass sich der FSB mit meinem Fall beschäftigt.
Wie wurden Sie an die Grenze gebracht?
Irgendwann wurde mir gesagt, dass sie mich freilassen würden und sie fingen an, mir Dinge zurückzugeben. Ich hatte zwei Telefone bei mir, das dritte hatte ich im Hotel gelassen. Aber auf der Polizeiwache war das dritte Telefon auf einmal unter meinen persönlichen Gegenständen. Das heißt, man war in mein Hotelzimmer eingebrochen, meine Sachen wurden ohne jede Anordnung untersucht, und das Telefon wurde in die Tasche gesteckt, die ich bei mir hatte. Dann fingen sie an, mich herauszuführen, aber nicht durch den Hauptausgang, sondern durch den Hinterausgang. Es wartete bereits ein Kleinbus mit sechs bis acht Personen in voller Montur mit Sturmmasken auf mich. Sie nahmen mich recht brutal auf, legten mir Handschellen an, zogen mir eine Skimaske über, die mit schwarzem Tuch abgedeckt war, so dass ich nichts sehen konnte. Meine Hände waren vorne mit Handschellen gefesselt, und als sie mich in den Kleinbus steckten, brachten sie ein 32 Kilogramm schweres Gewicht an die Handschellen an. Anscheinend war es ein psychologisches Druckmittel, um mich denken zu lassen, dass sie mich in irgendeinem Fluss ertränken würden. Im Auto versuchten sie, die Passwörter für die Telefone herauszufinden. Auf meine Weigerung hin sagten sie zueinander, dass obwohl die Telefone eingeschaltet und gesperrt sind, sie sehen können, dass sie sich im Flugmodus befinden, sodass mich niemand aufspüren könne, weshalb sie nach dem Plan handeln könnten. Na ja, und so weiter und so fort. Später ließen sie mich in Frieden und wir fuhren schweigend.
Natürlich war es angsteinflößend. Ich wusste nicht, was sie mit mir vorhatten und was sie mir antun würden, aber für mich selbst fasste ich den Entschluss: Wenn ich sterben muss, dann mit Stolz. Ich betete, gedachte aller meiner Sünden und bat den Herrn um Vergebung, ich wurde demütig und setzte mich so bequem wie es in dieser Maske und mit den Gewichten nur möglich war hin, reagierte in keiner Weise auf ihre Fragen und schwieg den ganzen Weg über.
Mir fiel auf, dass sie auf mein Schweigen nicht mit körperlicher Gewalt reagierten und mir wurde klar, dass sie, wenn sie mich weggefahren hätten, um mich zu töten, mich durch physische Gewalt gezwungen hätten, ihre Fragen zu beantworten. Zumindest redete ich es mir ein. Außerdem hatte der Stoff der Maske auf dem rechten Auge von unten einen Schlitz, und die Uhr an meiner Hand hatten sie nicht entdeckt, so dass ich die Uhrzeit zu Beginn der Reise sehen konnte. Wir fuhren 4 Stunden in hoher Geschwindigkeit. Ich wusste, dass es etwa 4 Stunden Fahrt von Pskow nach St. Petersburg waren und ähnlich weit bis zur belarusischen Grenze. Da habe ich schon begriffen: Es macht keinen Sinn, so weit zu fahren, nur um mich in den Fluss zu werfen. Sie schlagen mich nicht, das bedeutet, dass sie mich entweder zur weiteren Befragung in eine größere FSB-Abteilung oder nach Belarus bringen. Die zweite Möglichkeit war viel schrecklicher. Etwa drei Stunden später, als ein Lastwagen nach dem anderen an uns vorbei fuhr, wurde mir klar, dass sie mich zur Grenze brachten.
An der Grenze nahmen sie mir die Handschellen und die Maske ab und gaben mir eine Mitteilung, dass ich für fünf Jahre aus Russland abgeschoben wurde. Ich habe sie gefragt: „Text Wofür?“ Sie antworteten mit den Worten: für die illegale Inhaftierung russischer Bürger. Das verwirrte mich. In dem Papier, das sie mir gegeben hatten, stand nichts darüber. Das sagten sie mir nur mündlich. Ich versuchte herauszufinden, worum es dabei ging. Zuerst dachte ich, dass sie mir die Entführung meiner Freunde, die mit mir in Pskow waren und mir halfen, vorwarfen. Aber erstens sind auch sie belarusische Bürger, zweitens waren sie freiwillig mit mir in einem Hotel. Sie sagten: „Nein. Die Leute aus der Wagner-Gruppe.“ [Wagner-Gruppe ist ein privates russisches Sicherheits- und Militärunternehmen, das verdeckt operiert – Anm. des Übersetzers]. Ich selbst verstand nicht, woher sie sich die Wagner-Leute ausgedacht hatten… Dann dachte ich, dass die KGB-Offiziere ihnen vielleicht zugeflüstert hatten, dass ich etwas damit zu tun hätte oder dass ich an ihrer Verhaftung beteiligt gewesen sei, damit sie mich nicht mit Samthandschuhen anfassen würden. Oder vielleicht haben die FSB-Leute beschlossen, mir deutlich zu machen, dass mir niemand in Russland helfen würde, sodass ich gar nicht erst versuche, durch den Wald nach Russland zurückzukehren. Dann hätten sie mich noch einmal wegbringen müssen… Aber ehrlich gesagt, habe ich keine Idee, wie sie mir die Verbindung zur Wagner-Gruppe angedichtet hatten.
Als ich entlassen wurde, schickte ich das Foto des Dokuments an kompetente Personen in Russland, die aufgrund dessen was mit mir geschehen war, Mitgefühl hatten. Man erklärte mir, dass der mir ausgehändigte Bescheid eine Fiktion sei, dass dieses Dokument keine rechtliche Wirkung habe und dass die Tatsache, dass ich nach Belarus gebracht wurde, weder eine Abschiebung noch eine Auslieferung darstelle, sondern auf Grundlage einer direkten Verbindung zwischen den beiden Behörden erfolge. Welche Behörden es waren, kann man sich denken.
Ich weiß nicht, warum – vielleicht hatte ich mich so gut gehalten, vielleicht hatten sie ihre Arbeit erledigt – aber als sie mich absetzten, wurde die Atmosphäre ruhiger. Ihre Haltung änderte sich, sie erhoben die Stimme nicht, die Kommunikation wurde leichter. Ich fragte sie, wo ich war. Sie antworteten, ich sei in Belarus, im Gebiet Wizebsk. Sogar die Siedlung nannten sie, obwohl sie sich anscheinend selbst nicht sicher waren. Aber mir hat es sehr geholfen, als ich durch die Wälder lief, um rauszukommen.
Lassen Sie uns diese Geschichte an dieser Stelle abbrechen. Ich kann nur sagen, dass die Dinge anschließend noch viel komplizierter wurden.
Warum, glauben Sie, haben die Russen Sie nicht [an die Belarusen] übergeben?
Als ich merkte, dass ich beobachtet wurde, dass sie mich bald festnehmen würden, gab ich meinen Freunden Anweisungen, was sie im Falle einer Verhaftung tun sollten. Ich bat sie, sich an die Medien zu wenden und einen Anwalt zu finden, was sie auch taten, wie auch viele andere Dinge. Das war es, was mich gerettet hat, wie ich später erfuhr, als ich aus Belarus herauskam. Von der öffentlichen Aufmerksamkeit, vom Vorhandensein eines Anwalts, der nicht zu mir durfte, und von anderen Umständen erfuhr ich in der Zelle. Das half mir psychologisch und erlaubte mir, kühner standzuhalten. Wie ich davon erfahren habe, darüber möchte ich jetzt nicht reden.
Ich sollte anmerken, dass ich, nachdem man mich nach Belarus gebracht hatte, lange Zeit niemanden anrufen konnte und später, als ich wieder Kontakt aufnehmen konnte und nicht mehr in Belarus war, machte ich mir von allen Seiten ein Bild und konnte herausfinden, was vor sich gegangen war und wie. Ich war angenehm überrascht von den vielen Menschen, die mit mir aufgrund dessen, was mir passiert war, Mitgefühl hatten. Und umgekehrt, was die eigenen Leute [Mitarbeiter des Untersuchungskomitees – Anm. des Übersetzers] für eine Jagd auf mich veranstaltet hatten und wie schäbig und gesetzlos sie dabei vorgegangen waren. Aber lassen wir diesen Teil vorerst beiseite.
Ich weiß, dass viele Faktoren geholfen haben, und der wichtigste davon waren die Medien. Bevor ich verhaftet wurde, hatte ich es bereits geschafft, mit russischen Journalisten zu sprechen, hatte dem Fernsehsender Dozhd TV ein Interview gegeben, viele Menschen wussten um meine Situation. Als ich verhaftet wurde, versuchten sie, mir zu helfen, auch die Mitarbeiter dieses Fernsehsenders.
Ursprünglich war der Plan, mich unter irgendeinem Vorwand 48 Stunden lang festzuhalten und dann den belarusischen Behörden zu übergeben. Aber als die Sache öffentlich wurde, sahen sie, dass alles, was mit mir geschieht, sofort in die Medien kommt. Es war offensichtlich, dass, wenn ich direkt an den KGB übergeben würde, dies bedeuten würde, dass Russland Lukaschenko direkt hilft. Offenbar hatten sie diesbezüglich ihre eigenen Pläne oder Entscheidungen, die damals noch nicht getroffen worden waren. Aber sie konnten mich auf keinen Fall nach Lettland gehen lassen. Am nächsten Tag wäre mein Visum bereit gewesen. Deshalb haben sie beschlossen, mich über die Grenze zu fahren aber mich nicht direkt auszuliefern, sondern lediglich die eigenen Ansprechpartner zu informieren. Dort [in Belarus – Anm. des Übersetzers] würde man mich festnehmen, und sie wären fein raus. Erst nach den Ereignissen in Pskow begriff ich, was vor sich ging, und änderte meine Taktik.
Es war sehr schwierig. Ein Plan nach dem anderen brach zusammen. Die Grenzpolizei suchte bereits nach mir, ich hatte zu niemandem Kontakt, meine Telefone hatte ich weggeschmissen. Dazu kamen viele weitere Nuancen, ich musste auf jeden Fall raus. Als die FSB-Leute weggefahren waren, wartete ich nicht auf den nächsten Minibus, dieses Mal von unseren eigenen Polizisten besetzt, sondern eilte sofort in den Wald. Wie sich herausstellte, war das die richtige Entscheidung. Bald hörte ich, dass eine Verfolgungsjagd im Gange war. Sie jagten mich lange Zeit durch den Wald, aber sie fanden mich nicht nicht. Ich begriff, dass während mir in Russland die Publicity in den Massenmedien geholfen hatte, hier damit nicht zu rechnen war. Entweder es gelingt mir zu fliehen oder ich bin erledigt. Was in Russland passiert war, reicht bereits für einen Epos, sowohl für Kinder als auch für Enkelkinder. Ich beschloss für mich selbst, dass sie mich nicht erwischen würden, dass ich mein Bestes tun würde. Da mit mir ein Spiel ohne Regeln begonnen worden war, würde ich mitspielen und alles in meiner Macht Stehende tun.
Wie Sie sehen können, habe ich es geschafft, rauszukommen, aber was in Russland war, war nur ein Vorgeschmack… Das ist für den Moment alles. Vielleicht werde ich ein Buch schreiben. Wenn die Regierung wechselt, kann ich es veröffentlichen.
Nach den Ereignissen am 9. August gab es auch andere Kündigungen aus Gewissensgründen. Warum hatte ausgerechnet Ihre Kündigung so eine heftige Reaktion als Folge? Hat es mit dem Ermittlungskommittee zu tun, wo Sie beschäftigt waren? Oder mit Ihrer Ausreise nach Russland? Vielleicht mit den Fällen, in denen Sie ermittelt hatten?
Ja, soweit ich weiß, haben sowohl vor als auch nach mir Mitarbeiter gekündigt, darunter auch aus dem Ermittlungskommittee. Ich glaube, es ist wegen meines Berichts, nach dessen Erstellung ich mich entschlossen hatte, nach Russland zu gehen. Ich hatte einen 24-Stunden-Dienst und wurde Zeuge dieser schrecklichen Vorfälle, über die ich in meinem Bericht geschrieben habe. Davor gab es andere Dinge, die mich nachdenklich machten. Ich ging zum Beispiel an die Tankstelle, um Wasser zu kaufen, und das Wechselgeld wurde mir fast ins Gesicht geworfen. Ich hatte die Uniform des Untersuchungsausschusses an. Meine Kollegen fingen an, mir zu erzählen, wie sie Taxi fahren, und sich die Fahrer weigerten, von ihnen Geld anzunehmen. Die Fahrer sagten: „Als ich den Auftrag annahm, wusste ich nicht, dass Sie ein Mitarbeiter [der Sicherheitskräfte] sind, sonst wäre ich nicht gefahren. Aber von Ihnen werde ich kein Geld annehmen.“ Wir beteiligten uns nicht an der Auflösung von Demonstrationen, wir folterten keine Menschen… Aber dann wurde mir klar, dass das es darauf nicht mehr ankommt. Die Autorität aller Strafverfolgungsbehörden ist zerstört worden. Du bist OMON [Spezialeinheit in Belarus – Anm. des Übersetzers], alle anderen sind dagegen!
Es kam eines zum anderen, und nach der Schicht, oder besser gesagt in der Nacht dieses Tages, schrieb ich diesen Bericht. Als ich ihn schrieb, war ich sehr emotionalisiert. Ich hatte alles angegeben, was mich zur Weißglut trieb. Dann habe ich drüber geschlafen, den Bericht noch einmal gelesen und gemerkt, dass ich mich selbst in Gefahr bringe. Ich begann zu zweifeln. Aber ich mietete eine Wohnung auf der Kamennaja Gorka, die Fenster der Wohnung gingen auf die Straße hinaus, wo Frauen mit Blumen während der Solidaritätsaktionen standen. Und ich bin abends selbst ausgegangen, aber das ist nicht wichtig… Ich sah, dass die Leute da stehen, nicht heimgehen, nicht aufgeben. Man könnte natürlich auch einen dürren Bericht nach einem Muster eines Kündigungsschreibens verfassen, kündigen und aufhören. Aber ich sah all diese Menschen. Wir alle sahen, was mit den Gefangenen in den Isolationsanstalten gemacht wurde. Dann schreiben sie Beschwerden, suchen Gerechtigkeit und erhalten nichtssagende formale Antworten. Also was, soll ich auch einen Bericht nach einem Muster schreiben? Deshalb habe ich beschlossen, dass ich es so schreiben muss wie es tatsächlich ist.
Mir war natürlich klar, dass es eine Reaktion geben würde, und dass es besser wäre, für den Fall der Fälle für eine Woche zu verschwinden, die Reaktion abzuwarten und dann auf sie zu reagieren. Aber auf das, was als Nächstes geschah, war ich nicht vorbereitet. Ich hatte nicht vor, irgendwohin abzuhauen. Ich dachte, ich fahre für eine Woche weg und warte, bis sich die Lage beruhigt hat. Nach einem Tag bei einem Freund in Moskau erhielt ich ein Zeichen, dass es schlecht stünde, dass ich gesucht würde, dass sie wüssten, dass ich in Moskau sei, dass ich zwar ein wenig Zeit hätte, aber irgendwo hingehen müsse, von wo ich nicht ausgeliefert würde. Ich begann zu handeln, und was dann geschah, ist ja teilweise bekannt.
Unterstützen Ihre ehemaligen Kollegen das, was Sie getan haben? Woher kam das Zeichen?
Sagen wir einfach, ich habe davon erfahren. Ich werde nicht ins Detail gehen. Ich bin ein Ermittler, ich kenne meinen Job. Um zu begreifen, dass ermittelt wird, brauche ich keinen gestempelten Befehl oder ein Foto aus der Datenbank zu sehen. Ich kann es anhand anderer Zeichen erkennen, wenn ich die Informationen zusammenführe. Ich habe das Kündigungsschreiben am 19. August veröffentlicht; das Strafverfahren nach Artikel 425 des Strafgesetzbuches [Untätigkeit eines Beamten. Es sieht Strafen vor, die von einer Geldbuße und dem Verbot, bestimmte Positionen zu bekleiden, bis zu 7 Jahren Haft reichen, je nach Schwere und Folgen – Anm. Reform.by] wurde, wie ich später erfuhr, bereits am 20. eingeleitet. Wenn ein Strafverfahren eingeleitet wird, werden diese Informationen sofort in die Datenbanken eingegeben und so weiter. Ich wusste jedoch, dass ich nicht in den Datenbanken bin, ganz so als wäre kein Verfahren eingeleitet worden und als ob ich nicht gesucht wäre. Sie arbeiteten geschickt, um mich in Sicherheit zu wiegen, damit ich offen handeln würde, was ermöglichte, mich in Russland festzunehmen.
Anfangs war ich mir sicher, dass ich, bis das Verfahren eingeleitet und internationale Fahndung ausgeschrieben werden würde, mindestens eine Woche Zeit hätte, um in ein Drittland zu reisen. Nach meiner Festnahme in Russland wurde mir klar, was für ein Spiel vor sich ging, also begann ich, mehr zu analysieren, und sammelte Informationen. Ich erfuhr von der Fahndung an den Grenzen. Als ich in Sicherheit war, bestätigten sich die Informationen, dass bereits Verhöre im Rahmen des Falles, der angeblich nicht existiert, durchgeführt worden waren. Ich weiß sogar, wer die Ermittlungen leitet.
Laut Gesetz ist ein Ermittler eine verfahrensrechtlich unabhängige Person. Das heißt, in der Theorie könnten sie oder einer von denen, die noch im Dienst sind, mit den Ermittlungen beginnen und die in ihrem Rahmen gesammelten Beweise für die Zukunft sichern. Den Rücken könnten Ihnen die vorgesetzten Offiziere freihalten, indem die sie Ihnen versichern, dass sie die die Einleitung eines Strafverfahren verweigern würden…
Ja, theoretisch… Darüber hinaus kann ich als Ermittler von Gesetzes wegen und ohne Zustimmung zur Einleitung eines Strafverfahrens Untersuchungen durchzuführen, eine Strafanzeige erstatten und den Fall an das Gericht verweisen. Vereinfacht gesagt, das alles ist ohne eine einzige Unterschrift des Vorgesetzten möglich. Das ist nach dem Strafgesetzbuch und der Strafprozessordnung wirklich möglich. Aber alle möglichen internen Anordnungen, Anweisungen der Abteilungen, die vom ersten Tag der Einrichtung des Untersuchungskomitees an zugenommen haben, machen das unmöglich. Erst ein Dokument, dann das zweite, dann das dritte – und am Ende muss man alles mit dem Chef abstimmen. Jetzt ist es schon so weit gekommen, dass wir jeden Einsatz, jeden Vorfall der Führung melden müssen. Und über alles entscheidet die Leitung und sagt einem, was zu tun ist. Sie haben einen Kurzbericht über jeden Einsatz und jede Handlung im Rahmen eines Verfahrens. Und wenn nun jemand ohne Zustimmung der Leitung den Fall aufnimmt, dann wird diese Entscheidung schnell wieder aufgehoben und der Ermittler gemaßregelt. Wenn es sich um einen gewöhnlichen Kriminalfall handelt, gibt es die Möglichkeit, sich dumm zu stellen, so zu tun, als hätte man das versehentlich gemacht, aus Versehen das alte Schema angewandt. Dann kann man mit einem Verweis oder dem Entzug der Prämie davonkommen. Aber wenn man zum Beispiel in einem offensichtlich politischen Fall ein Verfahren gegen einen Polizeibeamten wegen Gewalt gegen einen Protestierenden einleiten und dabei Entschlossenheit zeigt, da wird man schnell entlassen.
Aber Sie haben sich entschieden…
Ja, ich habe mich entschieden, habe gekündigt und bin gegangen, obwohl ich Zweiter auf der Warteliste für eine Wohnung war, und der Wohnungsbau sollte bis Ende des Jahres beginnen. Ich war bereits dabei, die Dokumente zu sammeln. Auf der einen Seite habe ich alles verloren, auf der anderen Seite bereue ich nichts. Denn diese Kredite hätten mich noch mehr an diesen Job gebunden. Natürlich ist es schade, aber die Entscheidung fiel mir leichter als vielen anderen. Ich hatte keine Familie, keine Kredite, kein Auto, keine Wohnung. Ich packte das am dringendsten benötigte Eigentum in zwei Taschen – eine davon blieb im Hotel in Russland zurück als ich von den FSB-Leuten festgenommen wurde. Darin war auch das ganze Geld, das ich für die Vertragsverlängerung bekommen hatte, meine eiserne Reserve speziell für solche Fälle. Dann ging ich fort.
Für Andere, die eine Familie, ein Darlehen für eine Wohnung, ein Auto haben und zwei Jahre vor der Pensionierung stehen ist es schwieriger, sich zu entscheiden. Dadurch ist man erpressbar. Je länger man in den Strafverfolgungsbehörden arbeitet, desto schwieriger ist es, dort herauszukommen. Schließlich arbeitet man nur in eine Richtung, und es ist sehr schwierig und sogar beängstigend, sich ein Leben als Zivilist vorzustellen. Es ist sehr schwierig, sich umzuorientieren und woanders hinzugehen. Selbst auf die Baustelle kann man nur als Ungelernter gehen, weil man keine Qualifikation im Baugewerbe hat. Man kann auch als Wachmann in einem Geschäft arbeiten… Aber das ist nicht das, was man will, wenn man selbst Vorgesetzter oder Chefermittler war. Ich spreche nicht einmal von Macht oder Geld. Es ist nur so, dass die Arbeit eines Ermittlers interessant ist. Und die Arbeit als Fahndungsbeamter ist sogar noch interessanter, weil es kein Schreibtischjob ist. Vielen Menschen gefällt das, viele haben dafür gebrannt. Dieser Beruf wurde vom Vater an den Sohn weitergegeben. Alles verlieren, sich dem System widersetzen, dem sie vielleicht seit Generationen angehört haben – das kann bei weitem nicht jeder. Ja, die meisten Menschen sagen nur in der Raucherecke, was sie denken.
Gab es früher schon Impulse, wegzugehen?
Ich hatte mich lange Zeit auf Verbrechen gegen das Individuum spezialisiert – Mord, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung. Und das ist nicht nur Arbeit, es ist der Umgang mit menschlichen Schicksalen. Ein Fehler kann einen großen Schaden anrichten. Sie können einen Fall von Körperverletzung unter rein formalen Gesichtspunkten behandeln und vor Gericht bringen, und der Angreifer kommt für einige Jahre ins Gefängnis. Oder man kann den Fall tiefer untersuchen und feststellen, dass das „Opfer“ sich viel schlimmer benommen hatte als der Angeklagte, dass er ein arbeitsloser Trinker ist, während der „Angreifer“ ein gewissenhafter Arbeiter und ein vorbildlicher Vater zweier Kinder ist, der sich verteidigte, ihn aber einfach unglücklich zuschlug und dem anderen den Kiefer brach. Das Bild ist dann ganz anders, und man überlegt schon, was man im Rahmen des Gesetzes tun kann, um das Leben eines normalen Menschen nicht zu zerstören. Wenn man ehrlich und gewissenhaft arbeitet, zermürbt es einen, man ist erschöpft und hat kaum Zeit für sich selbst. Das kann nicht jeder aushalten. Deshalb hat jeder von Zeit zu Zeit solche Gedanken.
Ursprünglich wollte ich in eine Pilotenschule gehen, ich blätterte das Handbuch [über verschiedene Berufe] durch. Dann sehe ich – „staatsanwaltschaftliche und ermittlungstechnische Aktivitäten“. Es klingt wunderschön und man wird sicher nicht irgendwo im Wald sitzen, sondern in der Stadt arbeiten. Ich war körperlich gut trainiert. Dadurch wurde ich ohne Probleme in die Akademie des Innenministeriums aufgenommen. Aber wegzugehen ist nicht so einfach. In den ersten fünf Jahren nach der Akademie kann man nicht gehen, weil man [ihre Ausbildung] abzahlen muss. Es ist eine Menge Geld, und so viel hatte ich nicht. Fünf Jahre Ausbildung gehen auch in das Dienstalter ein, wenn die Kadetten in die Einheiten eintreten und auf Patrouillen gehen. Es ist nicht einmal ein Stipendium, sondern ein Gehalt, grundsätzlich mit Boni und so weiter. Dann fünf Jahre Abarbeiten des Studiums.
Das Abarbeiten endete am 27. Juli. Aber das System ist so geschickt aufgebaut, dass das Dienstalter in allen Strafverfolgungsbehörden erst nach 10 Jahren angerechnet wird. Das heißt, dass mir nach 5 Jahren Akademie und 5 Jahren Berufserfahrung 14 Tage fehlen, um die 10 Jahre voll zu machen. So ergibt sich folgende Situation: man unterzeichnet einen neuen Vertrag, oder man landet im Alter von 27 Jahren auf der Straße, ohne einen normalen Zivilberuf und ohne einen einzigen Tag Berufserfahrung. In einer normalen Situation hätte ich mich für weitere 5 Jahre dienstverpflichtet und gearbeitet, und dann sind noch fünf Jahre bis zur Rente – ist doch Quatsch zu gehen… Und nach 20 Jahren solcher Arbeit ist man schon verbraucht, der Gesundheitszustand ist schlecht, und es gibt nichts, wohin man gehen könnte. Tatsächlich ist man bereits ein anderer Mensch. Wenn das, was am 9. August begann, nicht begonnen hätte, hätte ich vielleicht mein ganzes Leben lang so weiter gearbeitet.
Haben Sie die Beschwerden von Bürgern nach dem 9. August geprüft?
Ich war in einer etwas ungewöhnlichen Situation. In diesem Jahr untersuchte ich einen sehr schwierigen Fall, wofür ich in die Ermittlungsabteilung der Stadt Minsk geschickt wurde. Und ich habe mich nur mit diesem Fall befasst. Daher ließ ich mich nicht von politischen Entwicklungen ablenken, obwohl viele meiner Kollegen mit den Wahlen zu tun hatten und wurden ständig hinzugezogen. Ich kehrte erst eine Woche vor der Wahl in meinen Kreis zurück und erwartete, dass all dieses politische Geschehen mich nicht beeinträchtigen würde. Aber der Plan ging nicht auf und ich wurde als Fahnder beim Streifendienst eingesetzt. Beim ersten Mal im Dienst hatte ich Glück, da ist nichts Schlimmes passiert. Es gab gewöhnliche Vorfälle, die nichts mit Politik zu tun hatten. Und in meine letzte Schicht, so scheint es, hätte ich mich nicht einmal wechseln müssen. Ich war nur Vertretung für jemand anders. Und dann sind die Dinge passiert, die ich in dem Bericht beschrieben habe…
Man geht als Leiter der Einsatzgruppe zu dem Vorfall, man denkt, dass etwas zu klären ist, aber dann kommt eine merkwürdige Person und sagt: „Ich komme vom General soundso, ich muss mit den Geschädigten sprechen.“ Und man versteht, dass du, obwohl du der Ranghöhere bist und die Leute auf dich schauen, nichts tun kannst, weil jemand von oben „Entscheidungen trifft“ und die Geschädigten unter Druck setzt. Man kann natürlich auch die „Geht mich nichts an“ Position beziehen. Man hat ja niemanden geschlagen. Aber man steht trotzdem in der Verantwortung. Nach diesem Einsatz sagte ich mir, dass ich da nicht mehr arbeiten würde.
Jede öffentliche Kündigung von Strafverfolgungsbeamten aus Protest sorgt für Aufsehen in den Medien. Aber gibt es viele stille Kündigungen, die von den Medien unbemerkt bleiben? Haben Sie solche Informationen?
Fast alle meine Bekannten machten ihre Entscheidung zu kündigen öffentlich. Denn wenn man nur einen Bericht schreibt, dann kommen sie zu einem und reden auf einen ein: „Bleib doch, Du bist nur müde, jetzt schicken wir dich erst einmal in den Urlaub, dann verteilen wir das Arbeitsvolumen um.“ Nun, das geht dann so zwei Stunden lang. Ich habe schon so oft erlebt, dass ein Mann am Freitag ein Kündigungsschreiben verfasst, am Wochenende wird er bearbeitet, und am Montag ist er wieder bei der Arbeit.
Es scheint, dass sich die Minister des Sicherheitsapparats, Khrenin und Karajew, zum ersten Mal mit Appellen an ihre Untergebenen gewandt haben. Es waren keine Anweisungen oder Befehle, sondern öffentliche Appelle, Aufrufe. Wie sich auch Makei an die Diplomaten wandte. Demselben Muster folgte Lukaschenkos Rede vor der Staatsanwaltschaft. Spricht es von einer Art Regierungskrise?
Ich denke, dass der intellektuelle Teil des gesamtenm Sicherheitsapparates, der keine leitenden Positionen bekleidet, mental auf der Seite des Volkes steht. Aber die Leute sind in einer sehr prekären Lage und wissen das. Jeder einzelne ist an sich angreifbar. Aber sobald es kollektive Gegenwehr gegen das System gibt, ist das eine ganz andere Sache.
Sogar auf der Kreisebene. Wenn ein-zwei Ermittler kündigen, muss man deren fünf bis sechs Fälle unter den übrigen verteilen. Auf einmal hat jeder nicht sechs sondern sieben bis auch Fälle gleichzeitig. Bereits jetzt sind 60% der Ermittler Frauen. Diese kümmern sich traditionell neben der Arbeit auch um den Haushalt. Sie können nicht wie die Männer rund um die Uhr auf der Arbeit sitzen.
Selbst wenn man die Unzufriedenheit mit der politischen Lage beiseite lässt… Die Leute fangen einfach an, sich die Frage zu stellen: Will ich so eine Arbeit haben, die für nichts anderes Raum lässt? Wenn noch ein-zwei Leute gehen und dann noch einer wegen der Politik kündigt, erhöht sich das Arbeitsvolumen. Und was ist mit den Fällen? Die Fristen werden verlängert, die Fälle häufen sich. Dann kündigt noch ein anderer, weil er nicht dafür zur Polizeischule gegangen ist, um mit einer Kamera zu einer Kundgebung geschickt zu werden.
Politik beiseite, aber das Verbrechen verschwindet ja nicht. Und welche Befehle können in dieser Situation noch funktionieren? Es fehlt nicht viel, und ein Punkt wird erreicht, von dem es kein Zurück mehr gibt. Einer nach dem anderen werden sie aus verschiedenen Gründen massenhaft gehen. Sie sehen, dass das System erstickt. Die Kräfte reichen nicht aus, deshalb wissen sie nicht, wen sie noch anwerben sollen. Darum heisst es: „Gefahr! Der Westen versucht, uns zu übernehmen. Die 90er Jahre!“ Was für 90er Jahre? Es ist 30 Jahre her. Vergessen Sie es endlich.
Warum führen sich OMON und andere Sicherheitskräfte auf der Strasse so barbarisch auf?
Ich verstehe nicht, warum die OMON-Leute so brutal vorgehen. Ich kann nur sagen, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass der belarusische Sicherheitsapparat nach dem, was gewesen ist, seine Reputation wiederherstellen und das Vertrauen des Volkes wiedergewinnen kann.