17. August 2020 | Rebenok.by
Galina Zigilevich lebt im Dorf Senitsa bei Minsk. Am Abend des 10. August ging sie am Stadion joggen (das tut sie regelmäßig), als sie plötzlich sah, wie die Polizei vorbeilaufende Passanten festnimmt. Ohne lange zu überlegen, setzte sich die Rentnerin in den Gefangenentransporter rein, um herauszufinden, wo die Festgenommenen hingebracht werden und was mit ihnen geschieht. Die 76-Jährige erklärt, warum sie das Verhalten der Polizisten empörend fand und wie sie die Zukunft ihrer Enkel- und Urenkelkinder sieht.
An jenem Abend waren nur wenige Leute am Stadion, sagt Galina Zigilevich. Es waren lediglich ein paar Menschen mit Kinderwagen, ein Mann spielte Fußball mit Kindern, einige Passanten überquerten das Stadion.
„Ich joggte ein paar Runden und sah, da kommt ein Transporter und es steigen fünf bis sechs Menschen in schwarz heraus. Ich ging vorbei und fragte: „Seid Ihr etwa gekommen um Sport zu machen? Na dann los! Im Laufschritt – Marsch!“ Doch sie fanden es gar nicht lustig. Einer von ihnen sagte: „Den da, festnehmen!“ – Und dieser Mann wurde am Arm gepackt und in den Gefangenentransporter gebracht. Unweit davon lief ein Vater mit seinem etwa 16-jährigen Sohn. Entrüstet wandte er sich an den Polizisten: „Was treibt ihr denn da?“ – Daraufhin packten sie auch ihn sofort von beiden Seiten und führten ihn ab. Der Junge schrie „Papa, Papa!“ – und wurde auch in den Gefangenentransporter geschleppt. Wie sich später herausstellte, war der Vater mit dem Sohn nach seinem Feierabend einfach nur einkaufen gewesen. An dieser Stelle schrie auch ich auf: „Wieso nehmt ihr sie fest?“, krallte mich an einen der Polizisten fest und stieg in den Transporter ein. Ich sagte, „ich will wissen, wohin ihr die Menschen hinbringt, die grundlos am hellichten Tage festgenommenen wurden“.
Laut Galina Zigilevich hätte keiner der Polizisten etwas gegen die Anwesenheit einer 76-jährigen Oma im Polizeitransporter gehabt. Man fuhr los, ohne den Festgenommenen mitzuteilen, wo sie hingebracht werden. Angekommen ist der Polizeitransporter an der Polizeistation der Gemeinde Machulishchi.
„Wir stiegen aus, bekamen Mundschutzmasken verteilt und mussten im Flur sitzen. Die Festnahmezeit wurde mit 19:20 zu Protokoll gegeben. Nun sitzen wir und sitzen – und sie laufen hin und her den Flur entlang. Einer telefoniert hinter der geschlossenen Tür mit jemandem: „Was sollen wir mit denen tun?“ Allmählich wurden wir einzeln ins Arbeitszimmer zur Befragung aufgerufen. Die Anderen wollten mich vorlassen, ich sagte aber: „Lasst es, mir wäre es lieber als letzte reinzugehen.“
Mehrere Stunden verbrachte die Rentnerin auf dem Flur. Sie telefonierte mit ihrer Tochter, sagte, wo sie sei und bat sie, ihren Pass zu bringen. Wie sich später herausstellte, brachte ihre Tochter neben dem Pass auch Mineralwasser mit, doch der diensthabende Polizist ließ nur den Pass weitergeben und sagte zu ihr, es gehe ihrer Mutter ausgezeichnet.
Galina Zigilevich fährt fort:
„So gegen 22:00 Uhr sagte ich, ‘ich sitze hier schon lange, könntet ihr mir wenigstens etwas Tee bringen?’ Ein Polizist sagte beiläufig, „ja, ja, gleich“. Nach einer Stunde blieb ich immer noch ohne Tee sitzen. Dann fragte ich einen anderen Polizisten nach etwas Tee, er erwiderte, wir hätten doch Covid, wer soll nach mir die gleiche Tasse benutzen? – So blieb ich ohne Tee da sitzen.“
Um 23:00 Uhr wurde der Rentnerin mitgeteilt, sie wäre frei. Der Handy-Akku war zu dieser Zeit bereits leer, so dass ihre Tochter sie erst gegen 01:00 Uhr nachts abholen konnte.
„Obwohl ich nur schlicht am Stadion joggen war, wurde gegen mich eine Strafanzeige folgenden Inhalts erstellt: „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung zur Diskussion über die Wahlen des Präsidenten der Republik Belarus.“ Am 27 August muss ich vors Gericht. Sie wollten mich eigentlich fast am nächsten Tag zum Gericht schicken, doch ich bat um einen späteren Termin, bis meine Rente da ist, um die Strafe zu bezahlen.“
Galina Zigilevich konnte den Namen des Mannes herausfinden, der am Stadion gezielt festgenommen wurde. Er wurde als Wahlbeobachter nicht ins Wahllokal hereingelassen und versuchte, vor der Tür das Geschehen im Wahlraum zu beobachten. Galina Zigilevich erzählt, sie habe darüber hinaus einen Mann mit verbundenen Knien auf dem Flur des Polizeireviers gesehen. Sie fragte ihn, was geschehen war. Er wäre am 9. August von einem Nebenjob unterwegs nach Hause gewesen, befand sich zur falschen Zeit am falschen Ort und wurde mit Gummikugeln beschossen.
Die Tatsache, dass die Polizei Menschen wahllos am hellichten Tag in Haft nimmt und sich erlaubt, Menschen zu beschießen, findet die 76-Jährige entsetzlich. Das Gleiche gilt auch für die zahlreichen Nachrichten über die Opfer, die sie in den letzten Tagen las.
„Diesen Kerlen vom Sondereinsatzkommando und auch den anderen Polizisten möchte ich sagen:
Kinder, denkt doch an eure Zukunft, nicht nur eure eigene, sondern auch an die Zukunft eurer Kinder. Das ist doch eine Sackgasse, da findet man nicht mehr raus. Habt ihr es nicht satt, 26 Jahre lang immer das gleiche Geschwafel zu hören? Ich persönlich könnte ja noch still und leise den Rest meines Lebens leben, doch ich habe sechs Enkelkinder und zwei Urenkelkinder. Und ich mache mir Sorgen darüber, wie meine Kinder weiter leben werden.“
Aufmerksam beobachtet die zweifache Urgroßmutter, wie Generationen nacheinander folgen, ohne dass die Regierung im Lande sich ändern würde:
„Im Jahre 2010 half ich als Wahlbeobachterin und nahm meinen damals achtjährigen Enkel zum Wahllokal mit. Damals kandidierte Lukashenko. Zehn Jahre sind vergangen, nun ist eins meiner Urenkelkinder knapp acht Jahre alt und wieder kandidiert Lukashenko. Und noch zehn Jahre später, wenn meine Ururenkel acht werden, kandidiert Lukashenko immer noch? Halten Sie sowas für normal? Ich denke – nein.“