Sechs Lieder des belarusischen Protests

„Kalychanka“, „Pahonja“, „Kupalinka“ und andere Lieder, die in den Straßen von Belarus gesungen werden: Zusammen mit den Machern des Kulturprojekts Wir.by erzählen wir ihre Geschichten

15. März 2021 | Marija Badsej, Lisaweta Lysenka, Arzamas
Source: Arzamas
Der „Freie Chor“ wurde im August 2020 gegründet. Der Chor trat unerwartet an öffentlichen Orten in Minsk auf und spielte Kompositionen, die während der belarusischen Proteste besonders populär wurden.
Source: instagram.com/volnychoir

1. „Pahonja“

Text: Maksim Bahdanowitsch
Musik: Mikalaj Schtschahlou-Kulikowitsch

Klassische Interpretation.
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Aufführung auf der Straße.
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Autor

Maksim Bahdanowitsch ist einer der bedeutendsten belarusischen Dichter. Während andere belarusische Autor*innen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausschließlich über soziale Probleme schrieben, war Bahdanowitsch ein Ästhet, der erste belarusische Lyriker, der sich für die „reine Schönheit“ interessierte und in die belarusische Literatur die klassischen Formen der europäischen Poesie einführte: Sonett, Triole, Rondo.

Bahdanowitsch wurde in Belarus geboren, und als er fünf Jahre alt war, zog seine Familie nach Russland: zuerst lebten sie in Nischni Nowgorod, dann in Jaroslawl. Er brachte sich selbst die Belarusisch bei und und als er nach Belarus zurückkehrte, war er bereits ein Dichter geworden. Das Gedicht „Pahonja“ schrieb er 1916 in Minsk, das Frontstadt war, bereits im Bewusstsein, dass er unheilbar an Tuberkulose erkrankt war.

Lied

„Pahonja“ ist der Name eines militärischen Brauchs: Der Legende nach war er im Mittelalter auf dem Territorium von Belarus weit verbreitet. Oft wurden die Grenzsiedlungen von Kreuzritter- oder Tatarenüberfällen heimgesucht. Alle Männer jagten den Räubern zu Pferd hinterher, um sich die Beute zurückzuholen und die Gefangenen zu befreien. Das Bild des Reiters mit einem Schwert auf einem weißen Pferd ist in Belarus und Litauen zu einem wichtigen nationalen Symbol geworden.

Es geht um eine Verfolgungsjagd – nicht im Raum, sondern in der Zeit („Ihr fliegt in die unendliche Ferne, / Hinter euch und vor euch liegen Jahre“) – hinter den Belarusen her, die alles über sich selbst und ihr Land vergessen haben: „Jagen sie, oh Belarus, / Deinen Kindern hinterher, / Die dich vergessen und verleugnet, / verkauft und aufgegeben haben?“. Ziel dieser Verfolgungsjagd ist es, alles, was sein Eigentum nennt, und die Seinen zurückzugewinnen, nicht zuzulassen, dass Belarus*innen zu Fremden werden, zu erreichen, dass sie genau den Schmerz um ihr Land nachfühlen, den auch Bahdanowitsch verspürt hat: „Stecht sie mit dem Schwert ins Herz, / Lasst sie nicht zu Fremden werden! / Ihre Herzen sollen sie spüren, / Wie sie nachts für ihre Heimat schmerzen“. Im Refrain heißt es, dass diese Verfolgung der Belarusen „nicht zu brechen, nicht aufzuhalten und nicht zu bremsen“ sei.

2. „Kupalinka“

Text: Michas Tscharot
Musik: Uladsimir Terauski

Klassische Interpretation.
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Aufführung auf der Straße.
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Autoren

Komponist der Melodie, die auf Volksliedmotiven basiert, ist Uladsimir Terauski (russ. Wladimir Terawski), musikalischer Leiter des Ersten Belarusischen Staatstheaters. 1921 schrieb der Dichter Michas Tscharot für das Theater das Musikdrama „An Kupalle“ (Kupalle – ein belarusisches Mittsommerfest), auch „Kupalinka“ zu hören war. Tscharot hat den Text des Volksliedes poetisch bearbeitet und Terauski die Musik dazu komponiert. Das Theaterstück war ein grandioser Erfolg und wurde etwa 400 Mal aufgeführt. In den späten 1930er Jahren wurden Terauski und Tscharot hingerichtet und ihre Namen gerieten in Vergessenheit: Die Texte und die Musik wurden allgemein als „volkstümlich“ bezeichnet, auch nachdem die Autoren 1956-1957 rehabilitiert worden waren.

Lied

„Kupalinka“ ist quasi die musikalische Visitenkarte von Belarus. Es wurde von Pesnjary (eine bekannte belarusische Folk-Rock-Band) und Deep Purple aufgeführt, jeder Belaruse kennt es, und die lyrische Heldin, die „Rosen jätet, sich in die weißen Hände sticht“ und „Blumen pflückt, Kränze flechtet und Tränen dabei vergießt“, wurde schon im 19. Jahrhundert zur nationalen Verkörperung von Belarus als einem Land mit einem schönen und traurigen Frauengesicht.

3. „Mahutny Bozha“ (Mächtiger Gott)

Text: Natallja Arsennewa (auch Natallia Arsiennieva)
Musik: Mikola Ravenski (auch Mikola Ravienski)

Klassische Interpretation.
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Aufführung auf der Straße.
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Autoren

Die Poetin Natallja Arsennewa schrieb das Gedicht „Malitwa“ (dt. Gebet) im Jahr 1943, als sie sich in dem von den Deutschen besetzten Minsk lebte. 1947 vertonte der Komponist Mikola Ravenski das Gedicht. Während des Krieges arbeitete Ravenski im Kirchenchor der Stadt Tscherwen (Minsker Gebiet) und schrieb Kirchenmusik. Dies spiegelt sich im Klang des Liedes „Mahutny Bozha“ wider, obwohl die Musik zu dem Gedicht von Arsennewa später nach seiner Emigration in die USA geschrieben wurde. Vermutlich entstand zur gleichen Zeit auch der neue Name – nach den Anfangsworten des Gedichts. 

Lied

Ursprünglich die Hymne der belarusischen Nachkriegsemigrant*innen1, die erst in den 1990er Jahren in ihre Heimat zurückkehrten, wurde es schließlich zur religiösen Hymne von Belarus. Das Lied wird nicht nur von weltlichen Musiker*innen, sondern auch von Kirchenchören in orthodoxen und katholischen Kirchen vor oder nach dem Gottesdienst gesungen. 

Im Liedtext erscheint Belarus als ein ruhiges und einladendes Land: „Über dem stillen und freundlichen Belarus / Möge die Kunde deines Ruhms erstrahlen“. Das Gedicht zählt jene Werte auf, die für Arsennewa während ihres Lebens im besetzten Minsk besonders wichtig wurden. In ihren Erinnerungen an diese Zeit kommt sie immer wieder darauf zurück, wie sie sich trotz des beschwerlichen Lebens für die Entwicklung der belarusischen Kultur engagierte: Sie übersetzte Gedichte, schrieb Opernlibrettos und Theaterstücke für das Minsker Theater. Diese wichtigen Werte liegen in der alltäglichen Arbeit, im Glauben an die Gerechtigkeit und die Zukunft: „Schenke uns Erfolg in unseren alltäglichen Mühen“, „Gib uns Achtung, Kraft und festen Glauben / An unser Recht, an unsre Zukunft!“ Ursprünglich standen die Worte „Zrabi mahutnaj, zrabi ščaślivaj“ – „Mache [uns] mächtig, mache [uns] glücklich“ im Text, aber später ersetzte die Autorin das Wort „mahutnaj“ („mächtig“) durch „svabodnaj“ („frei“).


1 In den Jahren 1944-1945, gleich nach der Befreiung von Belarus aus der Besatzung und dem Ende des Zweiten Weltkriegs, begann eine Welle der belarusischen Emigration, zuerst in die Länder Westeuropas und danach in die USA und nach Kanada. Zu den größten Emigrantengruppen gehörten ehemalige Zwangsarbeiter*innen, die sich gegen eine Rückkehr in die UdSSR entschieden, und Intellektuelle mit antikommunistischen Ansichten. In den USA und Kanada engagierte sich die belarusische Diaspora für die Erhaltung und Entwicklung der belarusischen Kultur und war politisch aktiv.


4. „Kalychanka“

Text: Hennads Buraukin (russ. Gennadij Burawkin)
Musik: Wassil Raintschyk (russ. Wassili Raintschik)

https://youtu.be/1X2dUnEp5Ag

Klassische Interpretation.
Source: Arzamas

Aufführung auf der Straße.
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Autoren

In den 1970er Jahren ist die Muttersprache auf den Straßen der belarusischen Städte immer seltener zu hören: Schulen und Universitäten unterrichten in russischer Sprache, im Fernsehen dominiert ebenfalls Russisch. 1978 wird der Dichter Hennads Buraukin, fest entschlossen, das Fernsehen belarusischsprachig zu machen, zum Leiter der Belarusischen Fernseh- und Rundfunkgesellschaft ernannt. Eines seiner Projekte ist die Abendsendung „Kalychanka“ („Wiegenlied“), in der Kindern Märchen erzählt und Zeichentrickfilme gezeigt wurden. Der Text des titelgebenden Wiegenliedes wurde von Buraukin selbst geschrieben, die Musik komponierte der Komponist Wassil Raintschyk.

Lied

„Kalychanka“ ist ein Lied, das mehrere Generationen von Belarus*innen in den letzten 40 Jahren vor dem Schlafengehen gehört haben. Für viele Kinder, die bereits in russischsprachigen Familien geboren wurden, ist „Kalychanka“ das erste, was sie auf Belarusisch gehört haben. Dieses Lied mit seiner Sprache, die an die gemütliche Welt der Kindheit erinnert („sorki-splüschki“ – „Schlafmützchen-Sternchen“, „watschanjaty“ – „Äuglein“, „zicha-zichenka“ – „mucks­mäus­chen­still“), wurde zur Verkörperung der Welt, in der das Gute und die Gerechtigkeit siegen.

5. „Try Tscharapachi“ (dt. „Drei Schildkröten“)

Text: Ljawon Wolski
Musik: N.R.M.

Klassische Interpretation.
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Aufführung auf der Straße.
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Autoren

N.R.M. ist die erste erfolgreiche belarusische Rockband. Sie wurde 1994 gegründet und immer wieder Kritik gegenüber der Regierung geübt, weshalb Konzerte von N.R.M. in Belarus verboten wurden. 

Lied

Das Lied „Try Tscharapachi“ wurde im Jahr 2000 auf dem gleichnamigen Album veröffentlicht und erlangte in kürzester Zeit große Beliebtheit: Belarusische Gitarrenanfänger*innen lernten es zusammen mit dem legendären Hit der russischen Rockband Kino „Swesda po imeni solnze“ (dt. „Ein Stern namens Sonne“). Dieses Lied wird in Innenhöfen, bei Hockeyspielen und Protestmärschen gesungen. N.R.M.-Gitarrist Pit Paulau erzählte, der Text sei aus einem Witz entstanden: „Einmal kommt Jelzin heraus und sagt: ‚Die russische Staatlichkeit ruht auf drei Walen.‘ Man fragt ihn: ‚Auf welchen denn?‘ Und er antwortet: ‚Auf dem ersten … dem zweiten … und dem dritten Wal.‘“

Die Zeilen „Um Belarus, unsere liebe Mutter, zu lieben, / Muss man verschiedene Länder bereisen“ sind ein leicht abgewandeltes Zitat aus dem Lied „Kraniche fliegen nach Polesien“ der sowjetischen Band Pesnjary, dessen Stil vom N.R.M.-Sänger Ljawon Wolski parodiert wird. Die Zeilen „Es gab weder Galileo noch Bob Marley, / Es gab keinen Salvador Dalí. / Es gab weder Lenin noch Lennon, auch keinen Carl von Linné, / Es gab nur Wale und Schildkröten“ ist die Anspielung darauf, dass man in Belarus weiterhin nach archaischen Vorstellungen lebt. Jedoch erzeugt die Dur-Tonart des Songs und der heiter klingende Refrain – „Hey la-la-la-lai, / Du brauchst nicht zu warten, Überraschungen wird es keine geben“ – eine aufbauende emotionale Stimmung. 2006 nahm Ljawon Wolski eine kleine Änderung im Refrain vor: Statt „Überraschungen wird es keine geben“ sangen die Musiker nun: „Wir haben das Warten satt.“

6. „Prostyja slowy“ („Einfache Worte“)

Text: Mikalaj Anempadsistau
Musik: Ljawon Wolski

Klassische Interpretation.
Source: Arzamas
Aufführung auf der Straße.
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Autoren

1997 nahmen berühmte belarusische Rockmusiker, darunter Ljawon Wolski, ein Album mit dem Titel „Narodny Albom“ („Volksalbum“) auf. 27 Lieder erzählen vom Alltag einer belarusischen Kleinstadt in der Zeit zwischen den zwei Weltkriegen. Die Handlung spielt an der Grenze zwischen Polen und der UdSSR, die quer durch die Mitte von Belarus verlief. Unter den Protagonisten sind Schmuggler und kultivierte Damen, Händler und Lehrer, Gastwirte und polnische Spione. Neben der belarusischen Sprache sind in den Songtexten auch Trassjanka (eine Mischung aus Belarusisch und Russisch), Russisch, Polnisch und Jiddisch zu hören. Nach dem Konzept der Songschreiber sollten die Lieder so klingen, als wären sie in den 1930er Jahren komponiert worden (die Texte enthalten viele Verweise auf die Kultur des 20. Jahrhunderts – vom Zeichentrickfilm über Bolek und Lolek bis zu AC/DC).

Lied

Das bekannteste Lied des Volksalbums ist „Prostyja slowy“ („Einfache Worte“): In Belarus wird es auf Abschlussfeiern gesungen, es ist im TV-Werbespot eines Mobilfunkanbieters zu hören, in Diskotheken und bei Privatfeiern, am Lagerfeuer und in Innenhöfen der Wohnanlagen. Dieser Song vom Elternhaus – „ … Im Elternhaus ist alles so vertraut. / Du kannst dich hier aufwärmen, dich verstecken / Im Elternhaus, im Häuschen der Mutter“ – endet wie ein Schlaflied: „Gute Nacht, Herrschaften“. Die Hauptidee ist, dass es keinen Sinn macht, Ideologien mit ihren „komplizierten“ Worten zu folgen. Alle Ismen verbleiben im zwanzigsten Jahrhundert, viel wichtiger ist das Persönliche, Gemütliche und Zeitlose: „Brot auf dem Tisch, Flamme im Ofen“, blaue Dämmerung, Familie, „einfache Worte, einfache Dinge“.